Natur- und Heilkunde

Die mittelalterliche Medizin und damit auch die Natur- und Heilkunde Hildegards von Bingen war ganz wesentlich geprägt vom Geist der Heiligen Schrift und der Benediktusregel. Diese haben keinerlei Behandlungsmethoden oder Heiltechniken im modernen Sinne überliefert, wohl aber ein Bild des gesunden und des kranken Menschen, konkrete Wege zu einer gesunden Lebensordnung und Lebensführung sowie die Kunde von Heil und Heilung des Menschen.

Hildegards naturkundliche und medizinische Schriften entstanden zwischen 1150 und 1160. Sie sind Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, antiker Überlieferung und benediktinischer Tradition. Obwohl Hildegard selbst ihre Quellen mit keinem Wort erwähnt hat, läßt sich nachweisen, daß sie u.a. folgende Werke gut gekannt haben muß: zunächst das bereits im 2. Jahrhundert in Ägypten enstandene allegorisierende Naturkundebuch, den „Physiologus“, welcher in zahlreichen Übersetzungen über die ganze damals bekannte Welt verbreitet war; dann im Bereich der Pflanzenkunde die wichtigste Arzneipflanzenkunde der Antike, die ca. 500 Pflanzen behandelnde „Materia medica“ des griechischen Arztes Dioskurides Pedanios (1.J.n.Chr.); dann natürlich den berühmten „Hortulus“ des Reichenauer Abtes Walahried Strabo (um 840) sowie das meistgebrauchte Heilpflanzenbuch des Mittelalters, den „Macer Floridus“ (11. Jahrhundert), schließlich das verbreitete Pflanzenarzneibuch „Circa instans“, das ebenfalls im 11. Jahrhundert in der medizinischen Schule von Salerno entstanden war.

Das nicht enthaltene Originalwerk Hildegards trug den Titel „Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe (Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum). Es wurde bereits im 13. Jahrhundert aufgeteilt in die „Physica“, eine für den Volksgebrauch bestimmte Naturkunde und Heilmittellehre, und in die „Causae et curae“, in dem Heil- und Behandlungsmethoden beschrieben sind und in der Hildegard die antike Kosmologie und Humoralpathologie mit der christlichen Schöpfungs- und Erlösungslehre verbindet. Die Handschriften wurde erst 150 bis 300 Jahre nach der Niederschrift des verlorengegangenen Originaltextes zusammengestellt – ein großes Problem für die textkritische Erforschung der Werke. Teile des Werkes wurden später hinzugefügt, andere weggelassen oder gekürzt, so daß es mit letzter Sicherheit schwer zu klären ist, welche Textteile original von Hildegard stammen und welche nicht. Gleichwohl lohnt es sich, tiefer in die natur- und heilkundliche Gedankenwelt Hildegards und in ihr Bemühen um eine ganzheitliche Heilung des Menschen einzudringen.

Zur Begründung ihrer Heilkunde geht Hildegard – ganz ihrer Schöpfungs- und Erlösungstheologie entsprechend – zurück bis zur Erschaffung der Welt, um damit die besondere Stellung des Menschen im Kosmos und seine Heilsbestimmung zu betonen. Dabei wird sie nicht müde, die ursprüngliche Harmonie des Menschen mit Gott und dem ganzen Kosmos, die für sie der Heilszustand schlechthin ist, zu preisen. Von seiner ursprünglichen „constitutio“ her ist der Mensch also heil geschaffen und zum Heil bestimmt. Mit dem Sündenfall Adams aber beginnt die Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst. Der Mensch als Ganzes unterliegt nun dem Verfall, einer krankhaften Verformung, der „destitutio“. Krankheit ist in Hildegards Denken kein Prozeß, sondern eine Ermangelung, ein Unterbleiben, eine Verfehlung im Wesen selbst und damit auch ein existentielles Defizit. Aufgabe der Heilkunst ist es angesichts dessen, dem Menschen den Weg zurück zum umfassenden Heil, zur „restitutio“, zu ermöglichen.

Vor diesem spirituellen Hintergrund lassen sich auch die Strukturen und Funktionen unserer leib-haftigen Organsiation verstehen. Solange die Elementarkräfte im Organismus ihre von Gott gegebene maßvolle und geordnete Aufgabe erfüllen, garantieren sie dem Menschen Gesundheit und Heil. Sobald sie aber von ihrer geordneten Funktionsweise abweichen, machen sie krank und führen zum Tode. Ein in Verwirrung geratenes Säftesystem (entsprechend der antiken Säftelehre) führt sowohl zu somatischen wie auch zu psychischen Erkrankungen.

Als Gegenstände der Medizin verweist Hildegard auf die Naturkunde, auf die Krankheitslehre und auf die Lebenskunde. Nur in strenger Rangordnung durften diese „pharmaka“ verordnet werden: die Chirurgie (Schröpfen und Aderlaß) ganz zuletzt, davor der Arzneimittelschatz, zu Beginn aber und ganz grundsätzlich die alle Therapie begründende und begleitende Diätetik. Sich im Alltag einer festen Lebensregel zu unterwerfen, das gehört für Hildegard einfach zu einem vernünftigen Lebensstil, zu einer ausgewogenen Lebensordnung, die man sich selber gibt oder von einem anderen annimmt. In Hildegards Heilkunde geht es also weniger um eine therapeutische Korrektur, als um die Hinwendung zu einer sinnvollen und maßvollen Lebensführung. gerade hierin erweist sich die heilige Hildegard als ganz und gar benedktinisch geprägt.

Dabei ist es vor allem die „discretio“, die der heilige Benedikt als „Mutter aller Tugenden“ bezeichnet, die für Hildegard den Weg zu einer solchen Lebenskultur weist. Sie ist die Grundwurzel allen Handelns, mäßigt alles und übt in Mitte und Maß ihre heilsame Funktion aus (discretio temperat omnia). Als wichtige Heilmittel betrachtet Hildegard auch Heilkräfte wie z.B. die heilsamen Kräfte im Wort und in der Musik, vor allem aber in der persönlichen Zuwendung zum Kranken. Den bloßen Salbenmischern schreibt Hildegard ins Stammbuch:“Wie könnt ihr Heilmittel verabreichen, ohne eure Tugend dazuzutun!“ Was Hildegards Heilkunde also auszeichnet, ist eine gelungene Synthese der antiken „techne therapeutike“ mit dem christlichen Geist der „humanitas“ und der „misericordia“. Das Ethos des Arztes liegt denn auch nicht im Sanieren und Heilmachen um jeden Preis, sondern in jener Barmherzigkeit, die einer für den anderen aufzubringen bereit ist. Die „misericordia“ ist das Leitbild für alles ärtzliche Tun schlechthin. Sie wendet sich hin zum anderen, leidet mit den Kranken und verkörpert einfach die Mitmenschlichkeit, die zum Heile dient. Es ist kein Zufall, daß diese Barmherzigkeit bei Hildegard das grüne Gewand der „viriditas“, der Grünkraft trägt, die die elementare Lebenskraft schlechthin ist.

Sr. Philippa Rath OSB