“Scivias”-Kodex: Tafel 31: Der Menschensohn

Am höchsten Punkt des Heilsgebäudes, wo die beiden Mauern sich vereinen, steht ein Thron auf sieben Stufen, auf dem ein junger Mann, der Menschensohn, sitzt. In purpurrotem Gewand ist er nur bis zur Hälfte sichtbar, sein übriger Leib ist verhüllt. „Was nämlich bis zum Weltende in der Kirche geschehen wird, kann man weder sehen noch wissen. Denn das gewaltige Aufblitzen der Gotteskräfte, die vor dem Jüngsten Tag offenbar werden sollen, bleiben den Menschen noch verborgen.“ Der Menschensohn richtet den Blick seines Erbarmens auf die Menschen und ruft mit lauter Stimme: “Ihr törichten Menschen, ihr welkt dahin. Nicht ein Auge wollt ihr öffnen, um zu sehen, was ihr in eurem gut ausgestatteten Geist seid. Du, o Mensch, besitzest das Wissen um Gut und Böse und die Fähigkeit, Gott in Wahrheit und Gerechtigkeit zu lieben. Viel ist dir geschenkt, viel wird von dir gefordert. Bei allem bin ich das Wichtigste und deine Hilfe.“ In einer langen Rede mahnt er die Gläubigen, die Weltlichen und Geistlichen, zum Tun des Guten. Diese Rede zeugt von Gottes Werben um sein Geschöpf und von der Größe des Menschen.
Vor dem Menschensohn stehen die letzten fünf Gotteskräfte. In der Mitte der drei nebeneinander stehenden Gestalten befindet sich „die stärkste Säule, die im wahren Gott bleibt, der in Ewigkeit nicht wankt“, die Beständigkeit. Auf der Brust trägt sie zwei Fensterchen mit einem Hirsch, der die Vorderläufe auf das rechte Fenster und die Hinterläufe auf das linke gestützt hat, um loszuspringen. Der Hirsch stellt die Verbindung zur nächsten Tugend her, der Sehnsucht nach dem Himmel. „Wie der Hirsch nach den Wasserquellen verlangt, so sehnt sich meine Seele nach dir, o Gott. Ich will über Berge und Hügel hinwegspringen und nur nach dem Quell des lebendigen Wassers Ausschau halten.“
Zur Linken befindet sich die Gestalt der Herzenszerknirschung. Sie schaut auf die Fensterchen der Beständigkeit und spricht: „Immer blicke ich auf das wahre Licht und kann mich nicht genug an Gott sättigen.“ Die vierte Gestalt erscheint in einem Rad. Sie ist nur bis zur Brust ichtbar und hält in der rechten Hand einen kleinen grünenden Zweig. Das Rad umkreist sie ständig, während die Gestalt unbeweglich darin verharrt. Rings um das Rad steht geschrieben (in der Ausmalung nicht zu sehen):“Wer mir dient, folge mir, und wo ich bin, dort wird mein Diener sein.“ Auf der Brust dieser Gestalt ist eingemeißelt: „Ich bin das Lobopfer im ganzen Land.“ Es ist die Tugendkraft der Vollkommenheit oder Weltverachtung. Sie spricht: „Dem Sieger werde ich vom Baum des Lebens zu essen geben. Der Quell des Heils ertränkte den Tod und ließ mich in der Erlösung grünen.“ (grünender Zweig) Die letzte der Gotteskräfte mit einem hellen Glanz auf dem Antlitz trägt zwei weiße Flügel, die in ihrer Spannweite die Größe der Gestalt übertreffen. Sie liebt die Gemeinschaft mit den Engeln und eilt so zur Schau des ewigen Friedens. Es ist die Eintracht, sie spricht: „Gott ist gerecht. Nur Ihn will ich immer reinen Herzens und mit frohem Antlitz umarmen und unermüdlich loben.“
Durch die göttlichen Wirkkräfte oder Tugenden werden die Gläubigen auf die Nachfolge des Menschensohnes ausgerichtet. Er ist der Eckstein im Heilsgebäude. „Mächtig regiert er in denen, die von der Berührung des Heiligen Geistes entflammt, sich mit aller Anstrengung in der Vollendung der Tugenden und guter Werke ins Innerste des Geistes aufmachen.“
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB