Leben aus der Liturgie

Es war sicher eine der schwersten Stunden im Leben der heiligen Hildegard: 1178, im letzten Lebensjahr Hildegards, verhängte das Mainzer Domkapitel über ihr Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen das Interdikt. Wie kam es zu einer so harten Maßnahme?

Das Kloster hatte, wie es in damaliger Zeit üblich war, die Erlaubnis, verstorbene Freunde und Wohltäter auf dem Klosterfriedhof beizusetzen. Hildegard ließ einen exkommunizierten Edelmann, der sich mit der Kirche ausgesöhnt hatte, auf ihrem Friedhof bestatten. Da die Aussöhnung mit der Kirche aber nicht in der Öffentlichkeit stattgefunden hatte, forderten die Mainzer Prälaten die Exhumierung und Umbettung des Leichnams. Im Weigerungsfall werde das Kloster mit dem Interdikt belegt.

Und dann geschah es: Hildegard nahm das Interdikt auf sich in der Gewissensüberzeugung: „Besser ist es für mich, in die Hände der Menschen zu fallen, als das Gesetz meines Gottes zu verlassen.“ Interdikt; das hieß konkret in der mittelalterlichen kirchlichen Praxis: Dem Kloster wurde jegliche gottesdienstliche Handlung verboten. Was das für ein Kloster, eine Gemeinde im Kleinen, bedeutet, kann auch jede und jeder ermessen, die bzw. der nicht im Kloster lebt. Hildegard und ihrem Benediktinerinnenkonvent wurde das genommen, was das Herzstück christlichen Lebensvollzugs und die Mitte der benediktinischen Lebensform ist, und von dem in unseren Tagen das 2. Vatikanische Konzil sagte: „Die Liturgie ist der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt.“

Umso verständlicher ist, was die Äbtissin von Rupertsberg und Eibingen in einem Brief an das Mainzer Domkapitel zum Ausdruck bringt: „Ich selbst und alle meine Schwestern wurden deswegen von großer Traurigkeit befallen.“ Bis zuletzt kämpft sie gegen das Unrecht, „Gott die Ehre des Ihm zustehenden Lobes zu rauben“, wie sie es schreibt. Und sie hört eine Stimme rufen: „Die Stärke der Gerechtigkeit Gottes ist am Werk und erweist sich als Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit, bis diese besiegt am Boden liegt.“ Dieser Brief ist aber noch viel mehr als nur eine Bekundung ihres Kampfgeistes und ihrer Trauer, nämlich ein kostbares Zeugnis liturgischen Geistes, des Geistes der Einheit von gefeierter und gelebter Liturgie. Hildegard wusste: Wer christliche Liturgie feiert, lebt zum Lob der Herrlichkeit Gottes. Auch in diesem Sinn war sie ganz und gar Benediktinerin. Sie lebte entsprechend der Weisung des hl. Benedikt, der seinen Mönchen ins Stammbuch geschrieben hatte: „Dem Gottesdienst soll nichts, überhaupt nichts vorgezogen werden.“ Warum? Weil Gott uns, den Menschen, nichts vorgezogen hat und sogar seinen Sohn für uns hingegeben hat. Im Glauben wissen auch wir: In der Feier der Liturgie nimmt der Mensch intensiv und auf einmalige Weise Anteil an der Mitte des christlichen Glaubens, an Christus selbst, an seinem Heilswerk, an dem Werk der Erlösung. In ihr wird Vergangenheit, Heutiges und Zukünftiges Gegenwart und eint sich in Christus. Niemals können wir so von der Hoffnung auf Herrlichkeit berührt werden wie in der Feier der Liturgie. Und wer von uns wäre nicht von der Sehnsucht nach Herrlichkeit erfüllt?. Das sind Momente der Fülle und Gnade, der Dichte der Begegnung mit dem lebendigen Gott, der sich uns in der liturgischen Feier offenbaren, kundtun will. In dieser Begegnung werden Himmel und Erde eins. Dieses Einswerden ist einem Wachstumsprozess unterworfen. Mehr und mehr sollen wir in den Leib Christi verwandelt werden, damit wir wie Lebensbäume Frucht tragen, Liebende werden kraft der Liebe, die Gott selbst in uns ist. ‘Deificatio’, Vergöttlichung nennt die Tradition der Väter diesen Prozess. Paulus fasst diesen Werdegang in die Worte: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Damit wir darin aber nicht einer Illusion erliegen, ist die Voraussetzung, dass wir diesem Prozess umfassend zustimmen, uns bedingungslos dem Wirken des Heiligen Geistes in uns, in der ganzen Kirche überantworten. Augustinus hat es in unnachahmlicher Weise ausgedrückt: „Werde, was du empfängst: Leib Christi. Empfange, was du bist: Leib Christi.“

Ist ein solcher Glaube, ein christliches Leben aus dem Geist der Liturgie für den Menschen im dritten Jahrtausend noch erstrebenswert? So könnten wir uns fragen. Ist es nicht an der Zeit, dass die Christen endlich aktiv werden und sich nicht wieder einmal – wie schon so oft – in das Ghetto der betenden Kirche zurückziehen? Nein, ich meine, es sei überfällig, umgekehrt zu fragen: Ist es nicht an der Zeit, dass wir wieder beten lernen, uns der eigentlichen Kraftquelle unseres Glaubens neu zuwenden: dem betenden Christus, der sich mit seiner Kirche vereinigen will in der Anbetung des Vaters. Wenn wir uns darauf wieder neu besinnen, mag für uns wahr werden, was Paulus der Gemeinde in Philippi zuruft: „Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott. Und der Friede, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren.“ (Phil 4, 6-7) Nicht endlose Sitzung, Diskussionen, Aktenberge von Papieren und moralisierende Appelle führen uns zu einer lebendigen Kirche, sondern die Sorge um die Stärkung der inneren Quelle – der Vergegenwärtigung und des Eingehens in das Christus-Mysterium. Wenn wir wirklich lebendig beten, dann „bricht nach allen Seiten hin überirdische Helligkeit, tätiger Friede, Lebens- und Menschenkenntnis, wahre Menschenliebe hervor.“

Der betende, Gott suchende Mensch findet Heilung und Heil. Im gemeinsamen Gebet der Kirche, dem wir mit unserem ganzen Sein zustimmen, wird uns die Brücke zur Ewigkeit gebaut. Wir werden verwandelt in den neuen Menschen und gewürdigt, schon hier anfanghaft und in Zukunft auf ewig Lebensfülle zu genießen.

Wie diese Verwandlung des Menschen durch das liturgische Handeln geschehen kann, davon spricht exemplarisch die Berufungsgeschichte des Mose. Sicher ist diese Erzählung nicht auf den ersten Blick auf einen liturgischen Akt hin ausgerichtet. Von daher können wir nicht erwarten, dass in ihr alle zentralen Elemente der Liturgie, des litugischen Betens zur Sprache kommen. Ohnehin bleibt alles Stückwerk, was menschliche Worte über das ‘mysterium tremendum’, das ehrfurchtgebietende Geheimnis der Gegenwart Gottes in der Liturgie aussagen. Dennoch können wir aus ihr Grundelemente liturgischer Gottesbegegnung und Gotteserfahrung ablesen. In einigen Punkten möchte ich diese Grunderfahrungen unserer weiteren Betrachtung anheim geben.

1. In der Feier der Liturgie ergreift Gott die Initiative

Das Buch Exodus berichtet: Mose hütet die Schafe seines Schwiegervaters Jitro. Ein Kleinviehhirte der Wüste wird von Gott mitten aus der Arbeit gerufen. Gott ergreift die Initiative und will sich in Erfahrung bringen im Zeichen des Dornbuschs, der brennt und doch nicht verbrennt. Dieses Zeichen muss entfachend gewirkt haben, denn Gott hat in Mose, dem aus dem Wasser Gezogenen, wie sein Name wörtlich übersetzt heißt, der gefährdet war auf Leben und Tod, Faszination, ja nahezu Neugier geweckt, ihn in seinem Innern wachgerüttelt. Herausgerufen aus dem Alltag, bewegt sich Mose auf den zu, der ihn aufgeschreckt hat. Er begibt sich auf den Weg der Suche nach dem „rettenden Engel“, dem Boten Jahwes, dem Retter in der Not. Wie viel an Frage, an keimhafter Hoffnung und gleichzeitig an Verunsicherung mag in diesem Zugehen auf das Feuer verborgen gewesen sein? Mose sieht zunächst nur den brennenden Dornbusch, und erst nach genauem Hinsehen, erkennt er, dass er zwar brennt, aber dennoch nicht verbrennt. Dann spricht er sich selbst Mut zu: „Ich will hingehen und diese gewaltige Erscheinung ansehen.“ Seinen ganzen Willen aktiviert er, um die Chance der Begegnung mit dieser ungewöhnlichen Erscheinung nicht zu verpassen.

Und wir? Lassen wir uns immer neu wie Mose durch die Unverständlichkeiten und das Ereignishafte des Alltags von Gott herausrufen? Sind wir noch von Neugier bewegt? Lassen wir uns von Gott faszinieren, wenn wir uns aus dem Alltag hinbewegen zur Feier der Liturgie? Gott ergreift die Initiative, wenn uns täglich mehrmals wie bei uns im Kloster oder doch allsonntäglich die Glocken zum Gottesdienst rufen. Ist das für uns noch das Zeichen unseres großen Gottes, der sich uns in Christus offenbart hat? Glauben wir wirklich, dass er schon auf uns wartet, bevor wir uns auf den Weg machen? Für uns heute besteht sehr leicht die Gefahr, das wir den Ton der Glocken überhören im Lärm des Alltags. Ja, fast symbolisch gelten Glocken für nicht wenige Zeitgenossen als Lärmbelästigung. Wie soll Gott uns noch wachrütteln, wenn wir unsere Ohren nur mit ‘Walkmen’ und Geräuschkulissen überladen, wenn wir unsere Ohren des Herzens mit den Sorgen des Alltags unnötig überlasten oder gar verbauen? „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht“, mahnt uns der Psalmist. Wenn wir uns aufmachen zur Feier der Liturgie, so ist schon das Hingehen, sich auf ein Gotteshaus, dem verdichteten Raum göttlicher Gegenwart zu bewegen, eine Bereitung unserer Herzen für das Kommen Gottes, für seine Gegenwart, die er unserer Zeit im Wort und im Sakrament nicht weniger schenken will als Mose in der Wüste. In früheren Zeiten gehörte es z. B. wie selbstverständlich zur religiösen Erziehung, dass die Familie auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst schwieg, um sich innerlich zu bereiten auf das große Mysterium, an dessen Feier uns Teilhabe geschenkt werden sollte. Darin sollten wir erspüren: Wer sich aufmacht zur Liturgie, begibt sich in eine zielgerichtete Bewegung auf Gott, auf Christus hin, eine Bewegung „vom Anfang zu je neuem Anfang“
Bevor wir uns aufmachen, ist Gott immer schon der Rufende. Er ergreift täglich neu Initiative, wendet uns seinen gütigen, liebenden und sorgenden Blick zu. Es kommt alles darauf an, ob wir uns für diese Initiative Gottes öffnen und bereiten.

2. In der Feier der Liturgie wird der Mensch beim Namen gerufen.

Nachdem sich Mose dem Zeichen der göttlichen Gegenwart angenähert hat, geschieht etwas ganz Großes: Der sich offenbarende Gott ruft ihn zweimal beim Namen. Es geht in der Begegnung des Menschen mit Gott um eine ganz persönliche Inanspruchnahme. Die Namensgebung und Namensnennung ist für den biblisch geprägten Menschen etwas ganz Zentrales. Wir haben uns den Namen in der Regel nicht selbst gegeben. Als Kinder, in Taufe und Firmung nannte uns Gott durch unsere Eltern beim Namen. Aber erst im Laufe unseres Lebens haben wir mit seinem Klang uns selbst und all das vernommen, was wir sind und haben: unseren persönlichen Weg mit allen seinen Entwicklungen, mit allem Gelingen und mit allem Missgeschick, mit allem, was zu uns gehört. Wenn Gott Mose und jede und jeden von uns beim Namen ruft, so heißt das im gläubigen Kontext: Unser Name macht unser Wesen aus. Wer mit Gott im Bund steht, wird immer von ihm bei seinem Namen gerufen, denn er ist Gottes Eigentum. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Mein bist du“, bezeugt uns der Prophet Jesaja. Wir alle, die wir jetzt und hier gemeinsam vor Gott stehen, sind von ihm beim Namen und darin zur Lebensfülle gerufen, die er einmal zur Vollendung führen wird. Und wir alle sind einander ein Geschenk Gottes. Jeder und jede Gläubige ist eine Gabe, ein Geschenk Gottes an die Kirche und an die Welt. Dieses frohe Wissen im Glauben feiern wir gemeinsam mit unserem Schöpfer und Erlöser, wenn wir einschwingen in die Liturgie. Die byzantinische Liturgie hat einen alten Ritus bewahrt, der tief anrührt, wenn man ihn erleben darf: Der Priester reicht die Kommunion unter beiderlei Gestalt, in dem er die Hinzutretenden mit Namen anspricht: „Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus für – dann folgt die Namensnennung – zum ewigen Leben.“ Ja, wir alle sind in ganz personaler Weise gefragt. In der Feier der Liturgie geht es um unser Leben, um das ewige Leben. Wer Liturgie mitfeiert, feiert das Leben, feiert Pascha, Hinübergang in ewige Leben. Das kann niemanden kalt lassen, es erfordert von uns eine Reaktion.

3. In der Feier der Liturgie ist der Mensch zur Antwort gerufen.

Mose ist durch den Anruf Gottes ermutigt worden zu antworten. Er sagt: „Ja, da bin ich!“ Seine ganze Aktivität , ja mehr noch: sein ganzes Herz ist eingefordert. Der ganze Mensch, mit Leib und Seele, mit Verstand und Herz muss sich dem Anruf Gottes öffnen. Dieses persönliche ‘Ja’ lässt sich nicht delegieren. Sie ist die eigentliche ‘actuosa participatio’, die tätige Teilnahme aller Gläubigen am Gottesdienst, von der das 2. Vatikanische Konzil so eindringlich spricht. In jedem gesprochenen ‘Amen’, ‘Ja, so sei es,’ „dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden,“ dein Wille auch in meinem Leben, in jedem ‘Amen’ dürfen wir Gott mit ganzem Herzen, mit unserer ganzen Existenz Antwort geben. Das ‘Amen’ kennzeichnet die im Glauben Gereiften. „Kraft der Taufe sind wir – wie es das Konzil gesagt hat – berechtigt und verpflichtet, am Gottesdienst voll, bewusst und tätig teilzunehmen“.
. Dies geschieht, wenn wir mit all unseren Kräften ‘Amen’ sprechen. Mit unserem gläubigen ‘Ja’ sind wir in unserer menschlichen Würde aufgewertet und in unserer christlichen Würde zutiefst von Gott ernstgenommen. Im ersten Petrusbrief werden wir „ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm und Gottes Eigentum genannt (1 Petr 2) Niemals ist der Mensch größer und würdevoller, als wenn er vor Gott in der Gemeinschaft der Kirche steht und bezeugt: „Ja, da bin ich. Ich gebe mich ganz dir anheim.“

4. Die Begegnung mit Gott in der Litugie ist eingebunden in Ausdrucksformen.

Mose hat sein Ja gesprochen. Und doch: Gott kommt ihm zwar entgegen, aber er hört das Wort Gottes: „Komm nicht näher heran!“ „Sosehr Gott in diese Welt einbricht und in ihr da ist, so ist er doch kein Stück dieser Welt, das der Mensch in seinen Griff bekommt.“
Gott durchbricht nicht einfach menschliche Erfahrungsformen. Der Mensch der Bibel weiß: Niemand kann Gott direkt begegnen und am Leben bleiben. Auch Mose weiß das. Er wahrt die Formen der Gottesbegegnung. Er legt zunächst seine Schuhe ab im Bewusstsein: Ich darf heiligen Boden betreten. Noch heute zieht der Orientale die Schuhe aus, wenn er ein Heiligtum betritt. Haben wir noch Gefühl für das Sakrale? Sodann verhüllt Mose sein Gesicht, „denn er fürchtet sich, Gott anzuschauen“. Nicht allein menschliche Angst befällt ihn, sondern Ehrfurcht vor dem unauslotbaren Geheimnis Gottes. Die Liturgie will auch uns immer wieder neu in den ehrfurchtgebietenden Raum des göttlichen Mysteriums führen, das der Mensch niemals erfassen kann. Gott ist für uns nie ganz erkennbar. Ihn zu erkennen, das ist unsere Hoffnung für die Ewigkeit. Gott bleibt auch in der Offenbarung immer der ganz Andere. Die Liturgie will uns die Nähe Gottes in heiligen Zeichen erfahrbar machen und darf deshalb nicht in Banalität, Puritanismus, Kitsch oder zu vieles Reden ausarten. Sie soll uns hinführen zum „Lob seiner Herrlichkeit“ in Schlichtheit und Schönheit, zur Stille, zum Staunen, zur Anbetung und Fürbitte, zur inneren Haltung der Ehrfurcht und liebenden Zuwendung zu allen Brüdern und Schwestern. Nur so ist sie schon hier Abglanz der himmlischen Liturgie.

5. In der Liturgie offenbart sich Gott und sendet den Menschen.

Nachdem Mose sich ehrfurchtsvoll Gott genähert hat, wird ihm ein unsagbares Geschenk zuteil: Gott selbst tritt mit ihm in einen Dialog ein und offenbart sich ihm als der Gott, der bei ihm ist, der mit ihm geht und mit ihm wirkt. Diese Zusage gibt Mose die Befähigung zur Sendung. Er wird berufen zum „Botschafter und Bewirker der von Jahwe für sein Volk gewollten Freiheit“ Gottes zuverlässige, tröstende Gegenwart wird ihm die Kraft geben, seine Sendung zu erfüllen trotz aller Schwachheit und Ängstlichkeit. So ist es auch für uns, wenn wir gläubig die Liturgie mitfeiern. Jahwe, das ist der Gott der uns Menschen sagt: „Ich bin der: Ich bin für dich da. Ich sorge für dich. Ich bin der, der „mit dir geht, der das Leben kennt, der dich versteht, der dich zu allen Zeiten kann begleiten.“ – wie es ein neues geistliches Lied einmal ausgedrückt hat, der in allen Wechselfällen dieser Welt mit dir unterwegs ist. In unerschütterlichem Glauben an diese Gegenwart Gottes in allem, was uns begegnet, hat die hl. Hildegard für die Aufhebung des Interdikts gekämpft. Und ihr wurde Gerechtigkeit zuteil: Im März 1179, sechs Monate vor ihrem Tod, durfte im Kloster Rupertsberg die Glocke wieder zum Gottesdienst rufen. Und wir: glauben wir das wirklich, dass Gott jeden Schritt unseres Lebens mit uns geht, glauben wir noch an die Kraft des Gebetes? Wo immer wir uns auf diesen Gott einlassen, ist er mit uns am Werk. Er geht mit uns hinein in unsere Familien und Gemeinschaften, in unseren Dienst und unsere Lebensaufgaben. Er ist uns nahe in Freude und Leid, in Hoffnung und scheinbarer Ausweglosigkeit, in Liebe und Hass. In jeder lebendigen Mitfeier der Liturgie will er uns umprägen vom ‘homo faber’, dem Menschen der permanenten Aktivität, zum ‘homo liturgicus’, dem Menschen, dessen ganze Person durchstrahlt ist von Gottes Herrlichkeit, von seiner Schönheit, von seinem Licht, seiner Liebe, seiner Treue und seinem Frieden. Hier, in diesem Leben geschieht dies zunächst noch anfanghaft, aber die Anziehung durch den zum Himmel erhobenen Herrn in der Feier der Liturgie wird uns dereinst in den Lebensstrom hineinreißen, der uns führen wird von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Dann wird sich an uns erfüllen, was wir bald in der Sequenz von Ostern singen dürfen: „Ich habe die Herrlichkeit des Auferstandenen gesehen.“ Amen.

Sr. Christiane Rath OSB
(Fastenpredigt im Mainzer Dom am 15. März 1998)

Anmerkungen:
Sacrosanctum Concilium Kp. 1, Art. 10
Hildegard von Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965 S.236 ff
Ildefons Herwegen
Gregor von Nyssa, 8. Homilie über das Hohelied
Sacrosanctum Concilium Art. 14
Erich Zenger, Das Buch Exodus S.46
a. a. O. S. 51