„Liebt einander!“

Es gibt in unserem Klosterladen eine Postkarte, die besonders beliebt ist. Auf ihr ist der Spruch zu lesen: „Ein Freund ist jemand, der dich kennt und dich trotzdem lieb hat.“ Wer diese Karte betrachtet, der schmunzelt zustimmend. Wissend, wie wertvoll Freundschaften sind, aber wissend auch, dass Schwächen und Fehler zu schweren Zerwürfnissen führen und zum Ende einer Beziehung beitragen können. Ja, es steckt eine Tragik darin: wir alle leben vom Wohlwollen der anderen, von ihrer Güte und Nähe, ihrer Zuneigung – doch Sehnsucht und Enttäuschung liegen hier nah beieinander. Nichts ist so kostbar und zugleich so fragil, so zerbrechlich, wie die Liebe.
Das wusste bereits die Antike und stellte daher die Frage, was das denn eigentlich sei: eine „echte“ Freundschaft. Man kam zum dem Ergebnis, dass dies nicht ein Zweckbündnis sein könne, das bloß den Nutzen oder puren Spaß im Sinn hat, sondern gute Freunde haben einen Sinn für das Gute: für sich und füreinander. Sie sind nicht Konkurrenten, sondern Partner, die sich mitfreuen und mitleiden können: beglückende Seelenverwandtschaft, wechselseitiger Gedankenaustausch, geschenkte Zeit, Vertrauen. „Wohl dem, der einen solchen Freund gefunden hat“, so beschwören es die Weisheitsschriften des Alten Testaments.

Doch wie steht es dann mit der Gottesfreundschaft? Mit der Freundschaft, die Jesus uns schenkt? Von einer Liebe auf Augenhöhe kann man hier wohl nicht sprechen, oder doch?
Unsere gegenwärtige Zeit ist da jedenfalls skeptisch. Wenn sie Gott überhaupt noch eine Existenz zugesteht, so „kennt“ sie ihn fast ausschließlich als fernen, fremden, apathischen Gott, der scheinbar teilnahmslos jeglichem Geschehen unter dem Himmel seinen Lauf lässt.
Aber auch die Antike war der Gottesfreundschaft gegenüber zurückhaltend: eine Freundschaftsbeziehung in radikaler Ungleichheit sei nicht möglich. Der Mensch steht der antiken Götterwelt unfrei gegenüber. Er muss ihr das Lebensnotwendige ewig neu abringen: das Feuer, die Freiheit, den Frieden. Gott und Mensch bleiben Konkurrenten – Freundschaft undenkbar!

Das Evangelium des heutigen Sonntags ist uns vermutlich schon zu vertraut, um noch den Paukenschlag zu vernehmen, das unvorstellbar Neue zu hören, das in den Worten Jesu steckt: „Ihr seid meine Freunde! Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe!“ Jesus ist Vorbild im Lieben, aber mehr noch: Seine Liebe begründet die Liebe der Jünger; und noch mehr als das: Seine Liebe bewirkt die Liebe der Jünger und kommt in ihr zum Ausdruck. Er schenkt wahre Freiheit: Gottes und Nächstenliebe gehören untrennbar – partnerschaftlich – zusammen. „Wer sagt er liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, ist ein Lügner!“ Ja, Freundschaftsverweigerung und Gemeinschaftszersetzung gehören leider zu den beschämenden und erschreckenden Seiten kirchlicher Wirklichkeit.

Ein Freund ist jemand, der dich kennt und trotzdem lieb hat.
Gott ist jemand, der uns kennt, weil er uns liebt.

Am Abend des letzten Mahles – in diesem Kontext steht der Abschnitt aus dem Evangelium – schenkt Jesus der Welt das, was wir alle zum Leben brauchen: Liebe. Seine Liebe, die uns ruft und die uns als Geschenk, als Gabe und Aufgabe gegeben ist, um diese übergroße Liebe Gottes wiederum für andere erfahrbar und sichtbar werden zu lassen. Sie will und kann sich nicht verschließen, sondern muss sich ausbreiten. Sie ist nicht abstrakt, sondern zutiefst geerdet: „Wenn nun ich, der Herr, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen“, sagt Jesus wenige Augenblicke zuvor. „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ Aber: wie liebt Jesus denn eigentlich? Heilend, aufrichtend, verzeihend. Er ruft und lehrt, erklärt, versteht, zieht sich zurück, dient, betet, betet für, dankt, schläft, schweigt, isst mit Sündern und Ausgegrenzten, gibt sein Leben hin für seine Freunde, erweist uns seine Liebe bis zur Vollendung. Gehen Sie doch einmal das Evangelium auf dieser Spur durch: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ – unbegrenzt, vorbehaltlos, in unerschöpflicher Geduld.

Es gibt in unserem Klosterladen noch eine Postkarte, die gerne genommen wird. Darauf steht geschrieben: „Das Schönste, was ein Vater seinen Kindern schenken kann, ist ihre Mutter zu lieben.“ Ich möchte diesen Spruch gerne etwas verändern und damit eine kleine Antwort auf das Evangelium des heutigen Sonntags geben und zugleich eine Ermutigung aussprechen, von der ich zutiefst überzeugt bin: „Das Schönste, was wir Gott schenken können, ist einander zu lieben.“

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB