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Es war sicher eine der schwersten Stunden im Leben der heiligen Hildegard: 1178, im letzten Lebensjahr Hildegards, verhängte das Mainzer Domkapitel über ihr Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen das Interdikt. Wie kam es zu einer so harten Maßnahme?

Das Kloster hatte, wie es in damaliger Zeit üblich war, die Erlaubnis, verstorbene Freunde und Wohltäter auf dem Klosterfriedhof beizusetzen. Hildegard ließ einen exkommunizierten Edelmann, der sich mit der Kirche ausgesöhnt hatte, auf ihrem Friedhof bestatten. Da die Aussöhnung mit der Kirche aber nicht in der Öffentlichkeit stattgefunden hatte, forderten die Mainzer Prälaten die Exhumierung und Umbettung des Leichnams. Im Weigerungsfall werde das Kloster mit dem Interdikt belegt.

Und dann geschah es: Hildegard nahm das Interdikt auf sich in der Gewissensüberzeugung: „Besser ist es für mich, in die Hände der Menschen zu fallen, als das Gesetz meines Gottes zu verlassen.“ Interdikt; das hieß konkret in der mittelalterlichen kirchlichen Praxis: Dem Kloster wurde jegliche gottesdienstliche Handlung verboten. Was das für ein Kloster, eine Gemeinde im Kleinen, bedeutet, kann auch jede und jeder ermessen, die bzw. der nicht im Kloster lebt. Hildegard und ihrem Benediktinerinnenkonvent wurde das genommen, was das Herzstück christlichen Lebensvollzugs und die Mitte der benediktinischen Lebensform ist, und von dem in unseren Tagen das 2. Vatikanische Konzil sagte: „Die Liturgie ist der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt.“

Umso verständlicher ist, was die Äbtissin von Rupertsberg und Eibingen in einem Brief an das Mainzer Domkapitel zum Ausdruck bringt: „Ich selbst und alle meine Schwestern wurden deswegen von großer Traurigkeit befallen.“ Bis zuletzt kämpft sie gegen das Unrecht, „Gott die Ehre des Ihm zustehenden Lobes zu rauben“, wie sie es schreibt. Und sie hört eine Stimme rufen: „Die Stärke der Gerechtigkeit Gottes ist am Werk und erweist sich als Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit, bis diese besiegt am Boden liegt.“ Dieser Brief ist aber noch viel mehr als nur eine Bekundung ihres Kampfgeistes und ihrer Trauer, nämlich ein kostbares Zeugnis liturgischen Geistes, des Geistes der Einheit von gefeierter und gelebter Liturgie. Hildegard wusste: Wer christliche Liturgie feiert, lebt zum Lob der Herrlichkeit Gottes. Auch in diesem Sinn war sie ganz und gar Benediktinerin. Sie lebte entsprechend der Weisung des hl. Benedikt, der seinen Mönchen ins Stammbuch geschrieben hatte: „Dem Gottesdienst soll nichts, überhaupt nichts vorgezogen werden.“ Warum? Weil Gott uns, den Menschen, nichts vorgezogen hat und sogar seinen Sohn für uns hingegeben hat. Im Glauben wissen auch wir: In der Feier der Liturgie nimmt der Mensch intensiv und auf einmalige Weise Anteil an der Mitte des christlichen Glaubens, an Christus selbst, an seinem Heilswerk, an dem Werk der Erlösung. In ihr wird Vergangenheit, Heutiges und Zukünftiges Gegenwart und eint sich in Christus. Niemals können wir so von der Hoffnung auf Herrlichkeit berührt werden wie in der Feier der Liturgie. Und wer von uns wäre nicht von der Sehnsucht nach Herrlichkeit erfüllt?. Das sind Momente der Fülle und Gnade, der Dichte der Begegnung mit dem lebendigen Gott, der sich uns in der liturgischen Feier offenbaren, kundtun will. In dieser Begegnung werden Himmel und Erde eins. Dieses Einswerden ist einem Wachstumsprozess unterworfen. Mehr und mehr sollen wir in den Leib Christi verwandelt werden, damit wir wie Lebensbäume Frucht tragen, Liebende werden kraft der Liebe, die Gott selbst in uns ist. ‘Deificatio’, Vergöttlichung nennt die Tradition der Väter diesen Prozess. Paulus fasst diesen Werdegang in die Worte: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Damit wir darin aber nicht einer Illusion erliegen, ist die Voraussetzung, dass wir diesem Prozess umfassend zustimmen, uns bedingungslos dem Wirken des Heiligen Geistes in uns, in der ganzen Kirche überantworten. Augustinus hat es in unnachahmlicher Weise ausgedrückt: „Werde, was du empfängst: Leib Christi. Empfange, was du bist: Leib Christi.“

Ist ein solcher Glaube, ein christliches Leben aus dem Geist der Liturgie für den Menschen im dritten Jahrtausend noch erstrebenswert? So könnten wir uns fragen. Ist es nicht an der Zeit, dass die Christen endlich aktiv werden und sich nicht wieder einmal – wie schon so oft – in das Ghetto der betenden Kirche zurückziehen? Nein, ich meine, es sei überfällig, umgekehrt zu fragen: Ist es nicht an der Zeit, dass wir wieder beten lernen, uns der eigentlichen Kraftquelle unseres Glaubens neu zuwenden: dem betenden Christus, der sich mit seiner Kirche vereinigen will in der Anbetung des Vaters. Wenn wir uns darauf wieder neu besinnen, mag für uns wahr werden, was Paulus der Gemeinde in Philippi zuruft: „Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott. Und der Friede, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren.“ (Phil 4, 6-7) Nicht endlose Sitzung, Diskussionen, Aktenberge von Papieren und moralisierende Appelle führen uns zu einer lebendigen Kirche, sondern die Sorge um die Stärkung der inneren Quelle – der Vergegenwärtigung und des Eingehens in das Christus-Mysterium. Wenn wir wirklich lebendig beten, dann „bricht nach allen Seiten hin überirdische Helligkeit, tätiger Friede, Lebens- und Menschenkenntnis, wahre Menschenliebe hervor.“

Der betende, Gott suchende Mensch findet Heilung und Heil. Im gemeinsamen Gebet der Kirche, dem wir mit unserem ganzen Sein zustimmen, wird uns die Brücke zur Ewigkeit gebaut. Wir werden verwandelt in den neuen Menschen und gewürdigt, schon hier anfanghaft und in Zukunft auf ewig Lebensfülle zu genießen.

Wie diese Verwandlung des Menschen durch das liturgische Handeln geschehen kann, davon spricht exemplarisch die Berufungsgeschichte des Mose. Sicher ist diese Erzählung nicht auf den ersten Blick auf einen liturgischen Akt hin ausgerichtet. Von daher können wir nicht erwarten, dass in ihr alle zentralen Elemente der Liturgie, des litugischen Betens zur Sprache kommen. Ohnehin bleibt alles Stückwerk, was menschliche Worte über das ‘mysterium tremendum’, das ehrfurchtgebietende Geheimnis der Gegenwart Gottes in der Liturgie aussagen. Dennoch können wir aus ihr Grundelemente liturgischer Gottesbegegnung und Gotteserfahrung ablesen. In einigen Punkten möchte ich diese Grunderfahrungen unserer weiteren Betrachtung anheim geben.

1. In der Feier der Liturgie ergreift Gott die Initiative

Das Buch Exodus berichtet: Mose hütet die Schafe seines Schwiegervaters Jitro. Ein Kleinviehhirte der Wüste wird von Gott mitten aus der Arbeit gerufen. Gott ergreift die Initiative und will sich in Erfahrung bringen im Zeichen des Dornbuschs, der brennt und doch nicht verbrennt. Dieses Zeichen muss entfachend gewirkt haben, denn Gott hat in Mose, dem aus dem Wasser Gezogenen, wie sein Name wörtlich übersetzt heißt, der gefährdet war auf Leben und Tod, Faszination, ja nahezu Neugier geweckt, ihn in seinem Innern wachgerüttelt. Herausgerufen aus dem Alltag, bewegt sich Mose auf den zu, der ihn aufgeschreckt hat. Er begibt sich auf den Weg der Suche nach dem „rettenden Engel“, dem Boten Jahwes, dem Retter in der Not. Wie viel an Frage, an keimhafter Hoffnung und gleichzeitig an Verunsicherung mag in diesem Zugehen auf das Feuer verborgen gewesen sein? Mose sieht zunächst nur den brennenden Dornbusch, und erst nach genauem Hinsehen, erkennt er, dass er zwar brennt, aber dennoch nicht verbrennt. Dann spricht er sich selbst Mut zu: „Ich will hingehen und diese gewaltige Erscheinung ansehen.“ Seinen ganzen Willen aktiviert er, um die Chance der Begegnung mit dieser ungewöhnlichen Erscheinung nicht zu verpassen.

Und wir? Lassen wir uns immer neu wie Mose durch die Unverständlichkeiten und das Ereignishafte des Alltags von Gott herausrufen? Sind wir noch von Neugier bewegt? Lassen wir uns von Gott faszinieren, wenn wir uns aus dem Alltag hinbewegen zur Feier der Liturgie? Gott ergreift die Initiative, wenn uns täglich mehrmals wie bei uns im Kloster oder doch allsonntäglich die Glocken zum Gottesdienst rufen. Ist das für uns noch das Zeichen unseres großen Gottes, der sich uns in Christus offenbart hat? Glauben wir wirklich, dass er schon auf uns wartet, bevor wir uns auf den Weg machen? Für uns heute besteht sehr leicht die Gefahr, das wir den Ton der Glocken überhören im Lärm des Alltags. Ja, fast symbolisch gelten Glocken für nicht wenige Zeitgenossen als Lärmbelästigung. Wie soll Gott uns noch wachrütteln, wenn wir unsere Ohren nur mit ‘Walkmen’ und Geräuschkulissen überladen, wenn wir unsere Ohren des Herzens mit den Sorgen des Alltags unnötig überlasten oder gar verbauen? „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht“, mahnt uns der Psalmist. Wenn wir uns aufmachen zur Feier der Liturgie, so ist schon das Hingehen, sich auf ein Gotteshaus, dem verdichteten Raum göttlicher Gegenwart zu bewegen, eine Bereitung unserer Herzen für das Kommen Gottes, für seine Gegenwart, die er unserer Zeit im Wort und im Sakrament nicht weniger schenken will als Mose in der Wüste. In früheren Zeiten gehörte es z. B. wie selbstverständlich zur religiösen Erziehung, dass die Familie auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst schwieg, um sich innerlich zu bereiten auf das große Mysterium, an dessen Feier uns Teilhabe geschenkt werden sollte. Darin sollten wir erspüren: Wer sich aufmacht zur Liturgie, begibt sich in eine zielgerichtete Bewegung auf Gott, auf Christus hin, eine Bewegung „vom Anfang zu je neuem Anfang“
Bevor wir uns aufmachen, ist Gott immer schon der Rufende. Er ergreift täglich neu Initiative, wendet uns seinen gütigen, liebenden und sorgenden Blick zu. Es kommt alles darauf an, ob wir uns für diese Initiative Gottes öffnen und bereiten.

2. In der Feier der Liturgie wird der Mensch beim Namen gerufen.

Nachdem sich Mose dem Zeichen der göttlichen Gegenwart angenähert hat, geschieht etwas ganz Großes: Der sich offenbarende Gott ruft ihn zweimal beim Namen. Es geht in der Begegnung des Menschen mit Gott um eine ganz persönliche Inanspruchnahme. Die Namensgebung und Namensnennung ist für den biblisch geprägten Menschen etwas ganz Zentrales. Wir haben uns den Namen in der Regel nicht selbst gegeben. Als Kinder, in Taufe und Firmung nannte uns Gott durch unsere Eltern beim Namen. Aber erst im Laufe unseres Lebens haben wir mit seinem Klang uns selbst und all das vernommen, was wir sind und haben: unseren persönlichen Weg mit allen seinen Entwicklungen, mit allem Gelingen und mit allem Missgeschick, mit allem, was zu uns gehört. Wenn Gott Mose und jede und jeden von uns beim Namen ruft, so heißt das im gläubigen Kontext: Unser Name macht unser Wesen aus. Wer mit Gott im Bund steht, wird immer von ihm bei seinem Namen gerufen, denn er ist Gottes Eigentum. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Mein bist du“, bezeugt uns der Prophet Jesaja. Wir alle, die wir jetzt und hier gemeinsam vor Gott stehen, sind von ihm beim Namen und darin zur Lebensfülle gerufen, die er einmal zur Vollendung führen wird. Und wir alle sind einander ein Geschenk Gottes. Jeder und jede Gläubige ist eine Gabe, ein Geschenk Gottes an die Kirche und an die Welt. Dieses frohe Wissen im Glauben feiern wir gemeinsam mit unserem Schöpfer und Erlöser, wenn wir einschwingen in die Liturgie. Die byzantinische Liturgie hat einen alten Ritus bewahrt, der tief anrührt, wenn man ihn erleben darf: Der Priester reicht die Kommunion unter beiderlei Gestalt, in dem er die Hinzutretenden mit Namen anspricht: „Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus für – dann folgt die Namensnennung – zum ewigen Leben.“ Ja, wir alle sind in ganz personaler Weise gefragt. In der Feier der Liturgie geht es um unser Leben, um das ewige Leben. Wer Liturgie mitfeiert, feiert das Leben, feiert Pascha, Hinübergang in ewige Leben. Das kann niemanden kalt lassen, es erfordert von uns eine Reaktion.

3. In der Feier der Liturgie ist der Mensch zur Antwort gerufen.

Mose ist durch den Anruf Gottes ermutigt worden zu antworten. Er sagt: „Ja, da bin ich!“ Seine ganze Aktivität , ja mehr noch: sein ganzes Herz ist eingefordert. Der ganze Mensch, mit Leib und Seele, mit Verstand und Herz muss sich dem Anruf Gottes öffnen. Dieses persönliche ‘Ja’ lässt sich nicht delegieren. Sie ist die eigentliche ‘actuosa participatio’, die tätige Teilnahme aller Gläubigen am Gottesdienst, von der das 2. Vatikanische Konzil so eindringlich spricht. In jedem gesprochenen ‘Amen’, ‘Ja, so sei es,’ „dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden,“ dein Wille auch in meinem Leben, in jedem ‘Amen’ dürfen wir Gott mit ganzem Herzen, mit unserer ganzen Existenz Antwort geben. Das ‘Amen’ kennzeichnet die im Glauben Gereiften. „Kraft der Taufe sind wir – wie es das Konzil gesagt hat – berechtigt und verpflichtet, am Gottesdienst voll, bewusst und tätig teilzunehmen“.
. Dies geschieht, wenn wir mit all unseren Kräften ‘Amen’ sprechen. Mit unserem gläubigen ‘Ja’ sind wir in unserer menschlichen Würde aufgewertet und in unserer christlichen Würde zutiefst von Gott ernstgenommen. Im ersten Petrusbrief werden wir „ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm und Gottes Eigentum genannt (1 Petr 2) Niemals ist der Mensch größer und würdevoller, als wenn er vor Gott in der Gemeinschaft der Kirche steht und bezeugt: „Ja, da bin ich. Ich gebe mich ganz dir anheim.“

4. Die Begegnung mit Gott in der Litugie ist eingebunden in Ausdrucksformen.

Mose hat sein Ja gesprochen. Und doch: Gott kommt ihm zwar entgegen, aber er hört das Wort Gottes: „Komm nicht näher heran!“ „Sosehr Gott in diese Welt einbricht und in ihr da ist, so ist er doch kein Stück dieser Welt, das der Mensch in seinen Griff bekommt.“
Gott durchbricht nicht einfach menschliche Erfahrungsformen. Der Mensch der Bibel weiß: Niemand kann Gott direkt begegnen und am Leben bleiben. Auch Mose weiß das. Er wahrt die Formen der Gottesbegegnung. Er legt zunächst seine Schuhe ab im Bewusstsein: Ich darf heiligen Boden betreten. Noch heute zieht der Orientale die Schuhe aus, wenn er ein Heiligtum betritt. Haben wir noch Gefühl für das Sakrale? Sodann verhüllt Mose sein Gesicht, „denn er fürchtet sich, Gott anzuschauen“. Nicht allein menschliche Angst befällt ihn, sondern Ehrfurcht vor dem unauslotbaren Geheimnis Gottes. Die Liturgie will auch uns immer wieder neu in den ehrfurchtgebietenden Raum des göttlichen Mysteriums führen, das der Mensch niemals erfassen kann. Gott ist für uns nie ganz erkennbar. Ihn zu erkennen, das ist unsere Hoffnung für die Ewigkeit. Gott bleibt auch in der Offenbarung immer der ganz Andere. Die Liturgie will uns die Nähe Gottes in heiligen Zeichen erfahrbar machen und darf deshalb nicht in Banalität, Puritanismus, Kitsch oder zu vieles Reden ausarten. Sie soll uns hinführen zum „Lob seiner Herrlichkeit“ in Schlichtheit und Schönheit, zur Stille, zum Staunen, zur Anbetung und Fürbitte, zur inneren Haltung der Ehrfurcht und liebenden Zuwendung zu allen Brüdern und Schwestern. Nur so ist sie schon hier Abglanz der himmlischen Liturgie.

5. In der Liturgie offenbart sich Gott und sendet den Menschen.

Nachdem Mose sich ehrfurchtsvoll Gott genähert hat, wird ihm ein unsagbares Geschenk zuteil: Gott selbst tritt mit ihm in einen Dialog ein und offenbart sich ihm als der Gott, der bei ihm ist, der mit ihm geht und mit ihm wirkt. Diese Zusage gibt Mose die Befähigung zur Sendung. Er wird berufen zum „Botschafter und Bewirker der von Jahwe für sein Volk gewollten Freiheit“ Gottes zuverlässige, tröstende Gegenwart wird ihm die Kraft geben, seine Sendung zu erfüllen trotz aller Schwachheit und Ängstlichkeit. So ist es auch für uns, wenn wir gläubig die Liturgie mitfeiern. Jahwe, das ist der Gott der uns Menschen sagt: „Ich bin der: Ich bin für dich da. Ich sorge für dich. Ich bin der, der „mit dir geht, der das Leben kennt, der dich versteht, der dich zu allen Zeiten kann begleiten.“ – wie es ein neues geistliches Lied einmal ausgedrückt hat, der in allen Wechselfällen dieser Welt mit dir unterwegs ist. In unerschütterlichem Glauben an diese Gegenwart Gottes in allem, was uns begegnet, hat die hl. Hildegard für die Aufhebung des Interdikts gekämpft. Und ihr wurde Gerechtigkeit zuteil: Im März 1179, sechs Monate vor ihrem Tod, durfte im Kloster Rupertsberg die Glocke wieder zum Gottesdienst rufen. Und wir: glauben wir das wirklich, dass Gott jeden Schritt unseres Lebens mit uns geht, glauben wir noch an die Kraft des Gebetes? Wo immer wir uns auf diesen Gott einlassen, ist er mit uns am Werk. Er geht mit uns hinein in unsere Familien und Gemeinschaften, in unseren Dienst und unsere Lebensaufgaben. Er ist uns nahe in Freude und Leid, in Hoffnung und scheinbarer Ausweglosigkeit, in Liebe und Hass. In jeder lebendigen Mitfeier der Liturgie will er uns umprägen vom ‘homo faber’, dem Menschen der permanenten Aktivität, zum ‘homo liturgicus’, dem Menschen, dessen ganze Person durchstrahlt ist von Gottes Herrlichkeit, von seiner Schönheit, von seinem Licht, seiner Liebe, seiner Treue und seinem Frieden. Hier, in diesem Leben geschieht dies zunächst noch anfanghaft, aber die Anziehung durch den zum Himmel erhobenen Herrn in der Feier der Liturgie wird uns dereinst in den Lebensstrom hineinreißen, der uns führen wird von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Dann wird sich an uns erfüllen, was wir bald in der Sequenz von Ostern singen dürfen: „Ich habe die Herrlichkeit des Auferstandenen gesehen.“ Amen.

Sr. Christiane Rath OSB
(Fastenpredigt im Mainzer Dom am 15. März 1998)

Anmerkungen:
Sacrosanctum Concilium Kp. 1, Art. 10
Hildegard von Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965 S.236 ff
Ildefons Herwegen
Gregor von Nyssa, 8. Homilie über das Hohelied
Sacrosanctum Concilium Art. 14
Erich Zenger, Das Buch Exodus S.46
a. a. O. S. 51

Ohne Gott ist ein Kloster nicht denkbar. Gott ist die Grundlage und das Ziel christlich geprägten klösterlichen Lebens. Der christliche Gott, in der Tradition des Abendlandes bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch weithin bekannt, ist heute nur noch wenigen geläufig oder gar vertraut.
Aus diesem Grunde möchten wir ihn hier kurz vorstellen. Kenntnis haben wir von ihm durch die Bibel, das bisher am häufigsten verlegte, übersetzte und verkaufte Buch der Welt. Die christliche Bibel gliedert sich in zwei Teile, das Alte und das Neue Testament.
Das Alte Testament verbindet die christliche Religion mit dem Judentum und dem Islam. Wesentliche Teile dieser Texte sind für alle drei Religionen gemeinsam grundlegend, vor allem die Aussage, daß es nur einen einzigen Gott gibt.
Das Neue Testament knüpft an die Existenz von Jesus von Nazareth an. Die sogenannten vier Evangelien, nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes, beschreiben dessen Lebensweg, wie er bis dahin erzählt worden ist. Allerdings handelt es sich in keinem Fall um eine Dokumentation im heutigen Sinne. Vielmehr wird deutlich, daß mit Jesus etwas Neues anbricht, ein neues Verhältnis Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Gott. Das Alte Testament ist voll von Hinweisen darauf, daß diese Erneuerung notwendig ist, weil der Mensch seine Beziehung zu Gott aufgekündigt hat. So begründet sich die Erwartung des jüdischen Volkes auf den so genannten Gesalbten, den Christus, den Messias.
Diejenigen Juden, die der Auffassung sind, bei Jesus handele es sich um den erwarteten Messias, werden seither Christen genannt. So beschreibt es die Apostelgeschichte, der nächste Text im Neuen Testament. In ihm wird außerdem erzählt, daß nunmehr nicht ausschließlich die Juden das im Alten Testament so genannte Volk Gottes bilden, daß also nicht mehr die Abstammung ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes ist, sondern die Einstellung zu Jesus von Nazareth. Wenn man ihn für den vom jüdischen Volk erwarteten Messias hält, zählt man zu den Christen. Die Gemeinschaft der Christen wird schon sehr früh „Kirche“ genannt.
Die Gemeinschaft der Christen, die Kirche, war es auch, die Ende des 4.Jahrhunderts verbindlich und abschließend festgelegt hat, welche der vielen Texte über Jesus Christus und die Gemeinschaft der Christen, die im ersten und zweiten Jahrhundert entstanden waren, zur Bibel gehören sollen. Seither gilt die Bibel als Grundlage für christliches Leben.
Gleichwohl handelt es sich beim Christentum nicht um eine Buchreligion, sondern gründet sich auf Personen, erstlich auf die persönliche Beziehung des einzelnen Christen zu Jesus Christus.

Von ihm wird in der Bibel erzählt, daß seine Anhänger nicht nur seinen Tod am Kreuz miterlebt haben, sondern schon kurze Zeit später, in den Texten ist vom „dritten Tag“ die Rede, zum Teil unabhängig voneinander bemerkt und erfahren haben, daß er nicht mehr tot war, sondern lebt. Die zentrale christliche Botschaft lautet denn auch: „Jesus Christus hat den Tod am Kreuz erlitten und ist begraben worden. Er ist auferstanden am dritten Tag und den Jüngern erschienen.“ Seither ist er bis in unsere Zeit wirksam in der Gemeinschaft der Christen, der Kirche.

Die Christen haben im Nachsinnen über Gott und Jesus Christus dessen Wesen als „Gott gleich“ beschrieben. So entstand nach und nach die Vorstellung vom dreipersonalen Gott, von dem einen Gott, der sich in drei Personen entfaltet: Gott, der Vater, Gott, der Sohn, und Gott der Heilige Geist, als Verbindung zwischen Vater und Sohn.
Gott, der Vater, wird dabei erstlich als der Schöpfer der Welt und des Lebens angesehen.
Von Gott, dem Sohn, also von Jesus Christus, wird gesagt, er habe die Schöpfung, die sich verselbständigt hat, durch seinen Tod und seine Auferstehung wieder in die ursprüngliche Heilssituation gebracht.
Der Heilige Geist, gleichfalls eigenständige Person, gilt als Verbindung zwischen Vater und Sohn. Die Verbindung zwischen den göttlichen Personen wird für so wichtig gehalten, daß sie ebenfalls als Person dargestellt wird. Die Verbindung vollzieht sich im Gespräch zwischen Vater und Sohn. Von daher kommt dem Wort im Christentum besondere Bedeutung zu. Schon im Johannesevangelium wird Jesus Christus selbst „Wort Gottes“ genannt, durch das Gott die Schöpfung, die Welt, ins Werk setzt.

Im gemeinsamen Nachdenken der Christen über die Bibeltexte hat sich ergeben, daß das Thema des innergöttlichen Gespräches die Welt und das Wohlergehen der Menschen ist.
Abzulesen ist das vor allem an der immer wiederkehrenden Aufforderung der Bibel an die Menschen, Frieden zu ermöglichen und zu bewahren und das menschliche Zusammenleben von der Liebe zueinander bestimmen zu lassen.
Das kann allerdings niemals durch die Verdrängung von Problemen und Konflikten geschehen, sondern durch das gemeinsame Bemühen, die Konflikte auszutragen und die Probleme zu lösen. Der „unerledigte Rest“, den jede Bewältigung von Schwierigkeiten nach sich zieht, ist durch Wahrhaftigkeit und Rücksichtnahme zu entschärfen.
Dieses Existenzmodell liegt nicht nur der christlichen Kirche sondern darüberhinaus der ganzen abendländischen Gesellschaft zugrunde und bestimmt auch mehr und mehr die Arbeit der Politiker, unabhängig davon, ob sie sich zu den Christen zählen oder nicht.

So wird der christliche Gott als ein menschenliebender Gott beschrieben, der in Jesus Christus den Menschen so nahe kommt, daß er, obwohl er Gott ist, selbst Mensch wird. Im Heiligen Geist hinterläßt er den Menschen Anteil am göttlichen Leben und versetzt sie grundsätzlich in die Lage, gut miteinander zu leben. Der Blick ins eigene Leben und der Blick auf die Kirchengeschichte erweisen allerdings, daß dieses Ziel noch längst nicht zuverlässig und auf Dauer erreicht ist.
Die christliche Kirche stellt aber eine Möglichkeit dar, sich ihm manchmal zu nähern.

Sr. Scholastica Steinle OSB

„Wenn ich rufe, erhöre mich, Gott, du mein Retter!
Du hast mir Raum geschaffen als mir Angst war.
Sei mir gnädig und erhöre mein Flehen.“ Ps 4, 2

Der menschliche Akt, den wir „Gebet“ nennen, das Sprechen des Menschen zu Gott und die empfängliche und manchmal wortlose Offenheit für Gottes Wort an uns, hat viele Aspekte:
Menschliche Aspekte, die sich nach Gesetzmäßigkeiten des Menschseins vollziehen, und die man mittels der Humanwissenschaften wie der Anthropologie und Psychologie betrachten kann, aber auch Aspekte, die den Menschen übersteigen. Sie haben mit dem Gesprächspartner Gott zu tun und sind ein Mysterium, dem wir uns nur in ehrfürchtiger Scheu nähern können. Immer aber werden wir vor einem Geheimnis stehen, das größer ist als wir.

Das Gebet ist ein menschlicher Akt, vor allem aber eine Gabe Gottes, ein gnadenvolles Geschehen, eine Erschließung des Mysteriums von Gottes Nähe. Das Gebet ist das Herz einer jeden Religion. Jeder wirkliche Gottesdienst kennt und übt das Gebet, hat eine Gebetserfahrung, hat auch eine Gebetstradition, die einen Menschen lehrt, wie er zu Gott beten soll, wie er sich für die Welt Gottes öffnen und wie er sich voll Vertrauen auf den Weg zu einer Begegnung mit Gott machen kann.
Gebet ist – genau genommen – bewusste Offenheit für das Geheimnis der Nähe Gottes. Ein Leben, das gezeichnet und „durchatmet“ von Gebet ist, nennt die Schrift „Wandel vor dem Angesicht Gottes“. Dem alten Mönchtum war die „Memoria Dei“ wichtig: mit dem Herzen in allem Tun und Lassen bei Gott sein. Es gibt nämlich ein sehr enges Band zwischen dem Gebet und dem Alltagsleben: beides ist miteinander verwoben, existiert nicht nebeneinander. Wenn das Tun nicht den Charakter einer gottesdienstlichen Handlung hat, wenn es nicht „Tora“ ist, ein Handeln nach dem Willen Gottes, hat das Gebet keinen Nährboden, um zu gedeihen, dann sind die Worte unwahr und man betrügt sich selbst. Vor allem das Judentum hat immer vom Gebet verlangt, dass es im Leben verwurzelt sein muss, in der Wahrhaftigkeit des Lebens, wenn es selbst wahrhaftig sein soll. Jesus spricht dies an, wenn er sagt: „Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.“

Gebet, in dem sich nicht das Leben des Alltags widerspiegelt, läuft Gefahr, in Scheinheiligkeit zu versanden. Und andererseits ist aufrichtiges gottesdienstliches Handeln auch ein Gebet in Form einer Tat. Gebet hat zu tun mit einer Weise, zu leben, ist selbst auch eine Weise des Lebens: es ist, die Welt in Gottes Licht sehen, sich Gottes Gesichtspunkt zu eigen machen. Es ist Leben auf einer Ebene, auf der man Gespür für die Tiefendimension aller Dinge bekommt und entdeckt, dass alles mit Gott zu tun hat. Es geht darum, den Sinn für Gottes Anwesenheit zu wecken, in allem, was der Geist in unserem Leben zulässt.
In dem Buch „Der Mensch fragt nach Gott“, sagt Abraham Heschel: „Religion ist nicht, was ein Mensch in seiner Einsamkeit tut. Religion ist, was der Mensch mit der Gegenwart Gottes tut. Und der Geist Gottes ist gegenwärtig, wann immer wir bereit sind, ihn zu empfangen.“

Wenn es ums Gebet geht, so ist es gut und heilsam, sich gelegentlich bei den großen Betern aus dem Kreis der ersten Mönche Rat zu holen. Sie wissen, dass das Gebet eine harte Mühe ist, die Energie und Zähigkeit erfordert. Denn der Weg nach innen ist ein langer und sehr mühevoller Weg, auf dem es Augenblicke des Lichts geben kann, auf dem aber nur Gott selbst wachsendes Licht schenken kann.
Das Gebetsleben, das im Grunde mit der Einwohnung des Hl. Geistes in unseren Herzen zu tun hat, ist im letzten ein Mysterium des hervorbrechenden Lichts. Auch in dem Sinn, dass uns ein Licht über uns selbst aufgeht, weil wir unser Tun und Lassen immer wieder im Licht Gottes sehen und dabei zu bestürzenden Erkenntnissen über uns selbst gelangen können. Ein Altvater sagt: „Das Gebet ist für den Menschen ein Spiegel.“ Das Licht Gottes aber kann – die Mystiker sprechen oft davon – die Gestalt des Dunkels annehmen. So ist auch die Dunkelheit Offenbarung Gottes.

„Beten verändert“, es verändert uns selbst und unsere Sicht der Welt. Die großen Beter haben erfahren, dass wahrhaftiges Beten unseren Blick für Menschen, Dinge und Ereignisse schärft: wir sehen die Dinge und Ereignisse mehr im Licht Gottes. Nicht, dass das Licht vorher nicht da gewesen wäre, aber unser Auge wird empfindsamer und empfänglicher für das, was das Licht uns offenbart. Isaak der Syrer sagt: „Wer betet, erschaut die Flamme in allen Dingen.“ Das heißt, er dringt durch bis zum göttlichen Kern in allem: Gottes Gegenwart offenbart sich. Gebet ist Erfahrung der Nähe Gottes – oder Sehnsucht nach dieser Nähe. Ein Leben des Gebets macht sie mehr und mehr bewusst und erlebbar. Und plötzlich sieht man auch die Umwelt in neuem Licht.
Gebet ist, wie unvollkommen auch immer, eine winzige Vorwegnahme des Himmels. Die Altväter wissen, dass ein wachsendes Gespür für die Nähe Gottes eine Gabe des Hl. Geistes ist. Mit seinem Licht reinigt Er unser inneres Augen, so dass er in allem Sein Licht sehen kann.

Beter sind Menschen, die eine Begegnung suchen; wenn sie Christen sind, suchen sie die Anwesenheit Christi in ihrem Dasein. Der hl. Benedikt sieht die Gottsuche als das wichtigste Kriterium für eine Berufung zum monastischen Leben an. Und auch für uns bleibt die Frage, ob wir wahrhaft Gott suchen, ein Leben lang gültig und entscheidend, diese Suche kann so etwas wie ein Lebensklima werden.

In einem Vortrag: „Die Askese der Gottsuche“ formulierte es Edward Schillebeeckx es so:
„Immer auf der Suche bleiben nach dem verborgenen Gott und obwohl wir ihn nirgends auf frischer Tat ertappen können, niemals aufgeben, ihn zu suchen. Wir müssen uns weigern, diese Verborgenheit, diese Nicht- Einholbarkeit Gottes als einen Anruf zu erklären, um allein den sichtbaren Menschen zu suchen.“
Das Ideal, dass das ganze Leben wie Sauerteig durchdringt und getragen wird vom Gebet, nannten die alten Mönche das „immerwährende Gebet“.
1 Thess 5, 17 „Betet alle Zeit.“ Die Leser waren nüchtern genug, sich zu sagen, dass dies nicht bedeuten konnte, unausgesetzt Gebete zu sprechen. Sie wussten aus der Erfahrung selbst ihres Alltags, dass man seine Aufmerksamkeit auch auf anderes richten musste, dass es Beschäftigungen gab, die ein Beten unmöglich machten.
Um den Aufruf der Schrift treu nachzukommen, suchten sie die Lösung in der inneren Haltung des Herzens, die so beschaffen sein muss, dass sie sich so oft wie möglich zu ausdrücklichem Gebet kristallisiert.
„Wenn du mit jemandem sprichst und keine Möglichkeit zum Beten hast, bete dann, indem du dem Gefühl des Mangels in dir Raum gibst“, sagt ein Altvater. Und Augustinus sagt eigentlich dasselbe: „Wo du nicht ausdrücklich beten kannst, bete im Herzen durch deine Sehnsucht.
Die „memoria Dei“ der Alten, dieses mit dem Herzen bei Gott sein, ist so eine Spiritualität der Sehnsucht und des Verlangens nach einer Begegnung mit Gott, die das Herz erfüllt.
Die „memoria Dei“ ist weniger eine Aufmerksamkeit des Intellekts, als Bereitschaft und Anwesenheit des Herzens, dieser innersten Mitte unseres Wesens. Der Weg zum Gebet steht allen offen. Es ist ein langer Weg, ein Weg der Einübung, der Läuterung, der vom Hl. Geist gelenkten Askese; er führt zur Reinheit des Herzens, die identisch ist mit der zum Vollmaß gewachsenen Liebe. Das Gebet aber soll das ganze Leben durchsetzen und somit zum Atem des Lebens werden.

Je mehr man auf dem Weg des Gebets vorausschreitet, je mehr wird man sich bewusst, dass das Gebet Gnade ist, lautere Gabe Gottes. Nur der Hl. Geist vermag alles bis zum tiefsten Grund durchsichtig machen. So ist das Schriftwort auch zu verstehen, dass der Geist in unserem Herzen betet. Weil das Gebet Geistesgabe ist, Begnadigung, ist es etwas, das einem eher widerfährt, als dass man es tut.

Einer der wichtigsten Texte zur biblischen Lehre über das Gebet finden wir im Römerbrief 8, 22 – 27 (Übersetzung von Fridolin Stier):
„21 Deshalb wir auch sie – die Schöpfung – freigelassen aus der Knechtschaft des Verderbens, um zur Freiheit der Kinder – Gottes – Herrlichkeit zu gelangen. 22 Wir wissen ja, dass die ganze Schöpfung allzumal stöhnt und allzumal in Wehen leidet bis zum Jetzt. 23 Aber nicht nur sie! Nein, auch wir, welche die Erstlingsfrucht des Geistes innehaben – auch wir selber stöhnen zuinnerst, auf die Sohnschaft wartend: den Loskauf unseres Leibes. 24 Denn nur auf Hoffnung hin wurden wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man erblickt, ist keine Hoffnung. Denn: Was einer erblickt – was hofft er noch? 25 Wenn wir aber erhoffen, was wir nicht erblicken, so warten wir im Ausharren.
26 Dementsprechend aber nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn: Wie wir bitten sollen um das, was uns Not tut, das wissen wir nicht, der Geist selbst jedoch springt dafür ein – in wortlosem Seufzen. 27 Der Erforscher der Herzen aber weiß, was das Sinnen des Geistes ist, weil er Gott gemäß für die Heiligen einspringt.

Paulus erkennt den Zusammenhang zwischen dem Seufzen des menschlichen Herzens und dem Seufzen der ganzen Schöpfung nach erlösender Vollendung und dem Gebet aus dem Geist. Er, der uns durch die Taufe ins Herz gegeben ist, seufzt in uns nach dem Augenblick , in dem Er uns vollkommen erfüllt. Jedes geistgewirkte Gebet ist ein Gebet um Vollendung, eine Bitte um das Kommen des Reiches, also eine Bitte um das volle Leben des Geistes.
Das Seufzen der Schöpfung durchzieht auch das Gebetssingen des Menschen, und in diesem Seufzen und Sehnen spricht und ruft der Geist. Er leiht allem, das sich in uns nach Vollendung sehnt, seine Stimme.
Jedes aufrichtige Verlangen des Menschen , jede Sehnsucht trägt die Möglichkeit in sich, Gebet zu werden; denn in ihr kann der Geist wirken. Er muß uns helfen, zum tiefsten Kern unserer menschlichen Sehnsucht vorzustoßen, zum Hungern nach Gott. Dieses Hungern nach Gott muß uns bewusst werden, dann wird jeder Hunger in uns zum Gebet, jede Unruhe zu einer Hinwendung zu Gott, zum Auf unseres Abgrunds nach Gottes Abgrund, der allein die Erfüllung bringen kann.
Wir sind nun dann wirklich Menschen des Gebetes , wenn der Geist Gottes unsere ganzes menschliches Verlangen und Begehren zum Gebet macht zu einem Ruf nach dem Absoluten. Das Verlangen wird dann zur Stimme des Geistes.
Der Weg des Gebetes, der ein langer, mühseliger Weg sein kann, ist die wachsende Sensibilität für das Mysterium der Nähe Gottes. Denn es ist die wirkliche Begegnung mit Gott, auf die ein jeder hofft, der den Weg des Gebetes einschlägt.
Wann das sein wir? Es ist Gottes Stunde, es ist Gottes Gabe: seine Gnade, heilende Nähe, ein Nähe, die Er uns erfahrbar macht.
Noch einmal Abraham Heschel:
„Im Gebete öffnen wir uns dem Geistgebet als ein Weg der Erkenntnis, nicht als eine Weise, zu sprechen. Gebet rettet uns vielleicht nicht, macht uns aber wert, gerettete zu werden. Bei allem geheiligten Tun steht das Gebete an erster Stelle“

und Augustinus:
Denn das immerwährende Gebet ist das nie nachlassende Verlangen. Das Verlangen betet immer, auch wenn die Zunge schweig t… Wann schläft unser Gebet? Nur, wenn unsere Sehnsucht sich abkühlt.“

Die Benediktsregel bringt keine systematische Abhandlung über das Gebet. Sie gibt einige Anweisungen, sehr schlicht und sehr nüchtern, und weist auf die inneren Haltungen hin, die Verfassung des Herzens.
Der Traktat über die Ordnung des gemeinsamen Gebetes, der die Kapitel 8 – 18 umfasst, findet eine sehr zurückhaltende spirituelle Deutung in dem nur sieben kurze Verse umfassenden 19. Kapitel der Regel.
Wir glauben, dass Gott überall zugegen ist und die Augen des Herrn an jedem Ort auf die Guten und Bösen schauen…“ Der erste Satz von Kap. 19 stellt unmittelbar die Verbindung zur 1. Stufe der Demut her, die die Grundlage des monastischen Lebens ist. Es ist die Grundlage des Glaubens.

a) Das liturgische Leben, so kann man erstens daraus schließen, kann vom übrigen Leben nicht getrennt werden. In ihm lebt eine Kommunität, die das Verlangen hat, sich dem Wirken Gottes zu öffnen. Die Kommunität selbst ist „Opus Dei“, Werk Gottes, das sich an diesem bestimmten Ort verwirklicht.
In der Liturgie manifestiert sich unsere Gemeinschaft und drückt sich im gemeinsamen Glaubensbekenntnis aus. Gemeinsam erkennen wir in Dankbarkeit die Liebe Gottes, die immer zuerst da ist, die Gegenstand des tiefsten, unbegrenzten Verlangens für jeden Einzelnen und für alle in der Nachfolge Christi ist.
Die Liturgie ist Opus Dei, weil sie das offenbart, was im Herzen eines jeden und aller lebendig ist.

b) Die Liturgie, so kann man weiter schließen, ist Ausdruck des Lebens der Kommunität – und zwar mit ihren Höhen und Tiefen, ihren Momenten des Elans und der Müdigkeit. Nach einem Tag harter Arbeit ist vielleicht im Chorgebet Unlust, Ermüdung oder Gereiztheit zu spüren. Das ist unsere Wahrheit, die manchmal schwer zu ertragen ist – aber sie ist ein Teil unseres Weges, den das 7. Kapitel der Benediktsregel beschreibt. Das zu wissen, ist heilsam. Wir kommen dann nicht in Versuchung, die Schuld auf den Kantor, den Organisten oder sonst andere zu schieben.

c) Die Liturgie ist im ganzen Leben verankert und wird durch das ganze Leben vorbereitet.
Es ist wichtig, dass wir uns in unserem Tageslauf um eine gewisse Ausgewogenheit bemühen, dass neben dem Raum, der der Liturgie gewährt wird, auch Raum für die anderen, das Glaubensleben nährenden Werte gegeben ist: lectio divina, persönliches Gebet, Meditation, Zeiten des Schweigens, das Bemühen, sich nicht zu verzetteln.
Diese Ausgewogenheit ist vielleicht wichtiger als alle liturgischen Neuerungen oder Änderungen, die für sich allein oft nicht viel bewirken.

Die Teilnahme an der Liturgie erfordert eine bestimmte innere Haltung, sagt uns das 19. Kapitel der Benediktsregel. Das Bemühen um Aufmerksamkeit, das ein bewusster Glaubensakt ist.
Wenn die Liturgie Ausdruck des Glaubens der Kommunität ist, so ist die Liturgie ihrerseits der Ort, an dem die Kommunität genährt und geformt wird.
Teilnahme am Stundengebet ist Teilhabe am Wirken des Hl. Geistes, der sich in der Kommunität vernehmen lässt. Das ist nicht einfach ersetzbar durch „privates“ Beten, auch wenn das manchmal unumgänglich ist. Aber der Ort des Hl. Geistes ist die betende und feiernde Gemeinschaft.

Was für jedes Werk gilt, gilt auch für die Liturgie: sie erfordert eine Vorbereitung – und zwar eine „entferntere“ durch das Studium der Hl. Schrift, der Psalmen, durch die lectio divina – und sie verlangt auch eine unmittelbare und persönliche: das Vorbereiten der Bücher, Schweigen, Sammlung.
Kap 19 schließt mit dem bekannten Satz: „Stehen wir so beim Psalmensingen, dass unser Geist in Einklang ist mit unserer Stimme.“
Das heißt nicht, dass wir nicht während des Chorgebets von Tausend Gedanken, Plänen und Sorgen geplagt sein können, aber unser Herz muss sich engagieren. Wir müssen uns einlassen auf das Mysterium, das jenseits der Worte auf uns wartet. Davon soll unsere Leben im innersten geprägt sein.
Es ist nicht leicht, mehrmals am Tag die Arbeit einfach aus der Hand zu legen. Manchmal wird es auch nicht gehen. Die Regel sieht vor, dass am Ende jeder Hore der Abwesenden gedacht wird, dass sie dadurch mit hineingenommen werden.
Aber es ist unbestritten, dass das Stundengebet für den hl. Benedikt der Ort und der Raum schlechthin ist, in dem die Gemeinschaft sich als Einheit erfährt.
Gemeinsames Gebet und persönliches Gebet bedingen und ergänzen einander. In der Regel folgen die Kapitel 19 und 20 unmittelbar aufeinander
So kurz Kapitel 20 auch ist, es ist doch Träger einer ganzen spirituellen Tradition. Es verweist in seinem ersten Satz ebenfalls auf die 1. Stufe der Demut. Es sieht den Ort des Gebetes nicht auf der Ebene des Denkens, sondern auf einer inneren Haltung. Beten heißt: vor Gott sein in der Aufrichtigkeit des Herzens. Beim Beten wird das Herz rein. Rein ist nicht gleich fehlerfrei: das reine Herz wird fähig, die Liebe in ihrer Fülle aufzunehmen.

Das Gebet, wie es im 20. Kapitel der Benediktsregel beschrieben ist, ist das Gebet des „Armen“. Es ist Bittgebet, flehentliches Gebet, das seine eigene Armut kennt und sich an den wendet, der Ursprung und Quelle von allem ist. Nicht in vielen Worten ergießt sich das Gebet, sondern im Warten und im Vertrauen.

Das persönliche Gebet muss also wahr sein. Es darf daher auch kurz sein. Aber es muss in Treue vollzogen werden und immer wieder neue Hinwendung zu Gott sein.

Die Treue zum Gebet in aller Einfachheit und Schlichtheit ist Schlüssel zur Treue im monastischen Leben.

Sr. Simone Weinkopf OSB

Die geistliche Schriftlesung (Lectio divina) gehört für Benediktinerinnen und Benediktiner zum täglichen geistlichen Brot – sie kann aber auch für jeden Christen zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens werden. deshalb möchten wir Ihnen zum Jahr der Bibel die Grundzüge und Grundvollzüge der Lectio divina nahe bringen.

Denke ich an die Regel des hl.Benedikt, so zeigt sich in der Fülle der darin zitierten Schriftworte, wie sich der Umgang mit der Hl. Schrift im Alltag des Lebens des hl.Benedikt konkretisierte. Welch hohen Stellenwert die Lectio für Benedikt hatte, können wir uns schon durch die Wortkonkordanz verdeutlichen: Lectio (39x); legere (26x) lector (2x) / meditatio (nur 1x) meditari (nur 2x) / oratio (21x) / orare (10x) / oratorium (23 x).

Auch bezeugen uns die Regeltexte selbst schon, wie sehr Benedikt die Lesung schätzte. Seine Belesenheit in der Väterliteratur ist erstaunlich. Würde man sich nur auf die Zitate der Benediktsregel beschränken, käme schon eine ganze Väterbibliothek zustande: Cyprian, Hilarius, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Leo d. Gr. Palladius, Kassian, Cassiodor, Sulplicius Severus, Vitae Patrum, und selbstverständlich alle im Abendland damals bekannten Mönchsregeln: 1. Und 2. Regula Patrum, Regel des Pachomius, des Basilius, des Caesarius, die Magisterregel, sodann Martyrerakten und Konzilsakten. Klassisch Gebildete behaupten zudem, daß z. B. auch Anklänge an Vergil hörbar sind. Man darf wohl davon ausgehen, daß Benedikt die angeführten Quellen auch per ordinem ex integro gelesen hat. Lectio divina – heilige, göttliche Lesung gehört für ihn zum christlichen, monastischen Leben im Sinn des hl. Hieronymus, der einst schrieb: „Qui nescit scripturas, nescit Dei virtutem eiusque sapientiam; ignorantio scripturarum ignorantio Christi est.“ – Wer die Schrift nicht kennt, kennt nicht die Tugend und Weisheit Gottes; Unkenntnis der Schriften ist Unkenntnis Christi.“

Seit einigen Jahren mehrt sich aber auch bei vielen Menschen unserer Zeit wieder neu das Interesse an der Hl. Schrift, um die „Tugend und Weisheit Gottes“ neu zu erfahren. Immer wird berichtet von Vorträgen, Arbeitsgruppen und Seminaren innerhalb von Pfarrgemeinden über verschiedene Themen der Hl. Schrift. Nicht umsonst ermahnte unser Limburger Bischof Kamphaus 1999 in seinem Fastenhirtenbrief alle mit folgenden Worten:

„In meiner münsterländischen Heimat trinken die meisten Menschen Bier. Deswegen sind mir die ersten Weinproben im Rheingau in besonderer Erinnerung geblieben. Ich mußte lernen, daß man Wein nicht wie Bier trinkt. Man schluckt ihn nicht schnell herunter, sondern läßt ihn langsam über die Zunge laufen. Kenner (und Könner) schlürfen den Wein und durchmengen ihn dabei mit Luft. Aufmerksam registrieren sie seine Geschmacksentfaltung beim Schlucken. Wein braucht Zeit, um sein ganzes Aroma zu entfalten. Der Blick aufs Etikett löscht nicht den Durst. Ähnlich ist es mit der Bibel. Ein junger Mann sucht zum ersten Mal einen Rabbi auf. Der fragt ihn, was er denn bisher getan habe. Seine Antwort: „Ich bin dreimal durch den ganzen Talmud gegangen.“ „Gut“, sagt der Rabbi. „Aber wieviel vom Talmud ist durch dich gegangen?“ Das ist die Frage. Wer die Bibel nur liest wie ein Buch oder ein Etikett, der erhält einige Informationen, aber er verfehlt den unmittelbaren Kontakt. Ihre Wahrheit kann sich nur im eigenen Leben entfalten, in Verbindung zur eigenen Existenz. „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von Innen her.“ (Ignatius von Loyola) Es braucht Zeit, es braucht Übung und eine erfahrene Anleitung, um die Bibel als Buch des Lebens zu erleben.“ (Bischof Franz Kamphaus, Limburger Sonntag Nr. 12, 21. März 1999)

Wenn wir uns im begonnenen Kirchenjahr nochmals intensiver mit der Lectio, im Spezifischen der Lectio divina befassen, dann gehen wir von der Voraussetzung aus, dass das Buch, das Lesen uns neu zum eigenen Denken, zum eigenen Urteilen, d. h. zur Freiheit und Verantwortung helfen kann. Ein Buch – und ganz sicher das geschriebene Wort Gottes – kann uns neu auf diesen Weg führen, will uns Orientierung geben, kann uns zum „Lehrer des Lebens“ (Bischof Lettmann) werden. Nicht die vielen Worte belehren uns. Nur in einziges Wort kann zum Wort des Lebens werden, wenn es uns in die Dimension des Glaubens hineinführt, wenn Gott durch es spricht, wenn es uns Heil und Heilung vermittelt.

Bevor wir in diese Dimensionen tiefer einsteigen, sollten wir uns noch mal neu vergegenwärtigen, was eigentlich geschieht, wenn wir lesen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Lesen sei doch eine Selbstverständlichkeit. Zu Beginn möchte ich aber darauf aufmerksam gemacht, dass es grundsätzlich mehrere Leseformen gibt. Ein fachwissenschaftliches Buch lesen wir anders als einen Roman, eine Zeitung, einen Brief oder den Beipackzettel eines Medikaments. Was alle diese verschiedenen Leseformen gemein haben: Lesen hat werkzeugartigen Charakter. Zunächst erkennen wir Schriftzeichen, die wir in einem bestimmten Zusammenhang aufnehmen. Allein daran erkennt man schon, wie vielschichtig der Lesevorgang ist, denn es ist wohl nicht einfach selbstverständlich, dass wir das Gelesene im gleichen Kontext aufnehmen. Das lesende Subjekt ist am Inhalt nicht unbeteiligt. Gleichzeitig begegnet das lesende Subjekt im Text einem schreibenden Subjekt. Beide: Autor und Leser stehen jeweils in einem seelischen, sozialen oder eben auch religiösen Umfeld. Lesen ist eine Form der Kommunikation, der Begegnung. Diese Begegnung zwischen Schreiber und Leser steht zudem noch in einem speziellen Umfeld, nämlich im unmittelbaren Umfeld des Lesens. Daraus entsteht noch weiterer Kontakt, Beziehung, eine Komplexität von Querverbindungen. Wichtig ist , sich immer bewusst zumachen, dass an jedem Lesevorgang immer drei Dimensionen beteiligt sind: Autor, Text und Leser.

Befassen wir uns also jetzt mit Lectio divina, so müssen wir uns als ersten Schritt vergegenwärtigen, dass auch daran mehrere Dimensionen beteiligt sind: der Autor, bzw. die Autoren im Kontext ihrer Zeit, der überlieferte Text und wir als Menschen des begonnenen 2. Jahrtausends. Ich möchte Sie jetzt noch an einen Weg eines Mönches aus dem ersten christlichen Jahrhundert erinnern, wie er uns vom Karthäuser Guigo II. (+ ca. 1188) in der „Scala claustralium“ systematisiert überliefert wurde.
Die Mönche aller Zeiten kannten die Methode der Lectio divina, der geistlichen / göttlichen Lesung, die in unseren Tagen wieder neu auch außerhalb des Mönchtums entdeckt wird. (vgl. Enzo Bianchi, Dich finden in deinem Wort). Sie ist ein probates Mittel, sich dem Kern des Wortes Gottes zu nähern. Ich meine, dass das auch ein Weg sein kann, sich die Psalmen und andere Texte des Stundengebetes neu zu erobern. Dieser Weg kann uns für das Offizium, die Lectio und Oratio (Gebet) wieder neue Türen öffnen, wenn wir alles im Sinn der Lectio divina lesen und ins Herz aufnehmen. Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, wie gut es mir gelegentlich tut, das Stundengebet, z.B. auf Reisen, allein zu beten. Beide Formen: der gemeinsame und der einsame Vollzug hat seine Licht- und seine Schattenseiten. In vier Schritten vollzieht sich ein solcher Prozess, vier Stufen, die uns hinführen sollen zu Gott, zur Gotteserfahrung, letztlich zur Anschauung Gottes:

1. Lectio

In der Antike und um Mittelalter wurde noch eine Lesetechnik praktiziert, die ganz im Kontrast zu unserer heutigen steht: Man las in der Stille der Klosterzelle in einem ganz anderen praktischen Kontext, nicht wie heute hauptsächlich mit den Augen, sondern mit den Lippen, in dem man das, was man sah, vor sich hinsagte, halblaut sprach, und mit den Ohren dem gesprochenen Wort zuhörte. Man pflegte also das akustische Lesen. ‚legere‘, lesen, bedeutete gleichzeitig ‚audire‘, hören. Da fallen dann Formulierungen wie: „in lectione audio“. Durch die akustische Lektüre werden im Menschen alle Sinne geweckt. Augen, Mund und Gehör werden in Aktion gesetzt. Lesen wird dann wie z.B. auch das Singen eine Aktion des ganzen Leibes, der den Geist ergreift und in Anspruch nimmt. Diese Technik entspricht dem Ursprung und dem Wesen des Wortes: Es wird von einer Person entsendet, an eine andere gerichtet und von ihr im Hören aufgenommen. Durch das akustische Lesen wird das geschriebene Wort lebendig und wieder neu zu einer Art dialogischen Geschehens. Hören ist ja in sich ein dialogisches Geschehen. Das gesprochene oder geschriebene Wort wird entsendet, entbindet dann unser Hören, macht uns zu Hörern des Wortes. Im Wort der Hl. Schrift spricht Gott selbst zu uns und macht uns dadurch zu Gott- zu – Gehörigen. Gott sandte sein Wort und sendet es heute noch jeweils in eine ganz konkrete geschichtliche Situation. Die Hl. Schrift ist der bevorzugte Ort der Begegnung mit Gott. Dem liegt eine tiefe Glaubensüberzeugung zugrunde, auf die hin auch wir uns prüfen müssten.

Die Entbindung durch das Wort setzt aber nicht voraus, dass wir als Hörende das Wort automatisch verstehen. Der Hörende muss Ohr und Herz für das Wort öffnen. Deshalb ist die Lesung mit einem eifrigen Studium verbunden, erfordert von uns gespannte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Seele. Wir müssen langsam und genau lesen. Wir dürfen uns nicht von Neugier treiben lassen und die Worte oberflächlich überfliegen. Sondern wir müssen mit Sorgfalt den Buchstaben beachten, den Text, wie er in seiner sprachlichen Gestalt vorliegt, von der Grammatik und vom Textsinn her zu erfassen suchen. Das feste Geländer des Textes bewahrt uns vor Träumereien und Schwärmereien, vor leerem Sentimentalismus, der keine Grundlage in der biblischen Botschaft hat. Wir lassen uns nicht leiten von eigenen Gedanken und eigener Phantasie, sondern von der objektiven Offenbarung, die in Schrift und Tradition festgelegt ist.

2. Meditatio

Der Lectio folgt als zweite Stufe die Meditatio. (Beatus vir, qui in lege eius meditatur die ac nocte „Ps 1, 2). Meditatio ist die innere Fortsetzung der Lectio. Was heißt „meditari“ ? Im Wörterbuch kann man sehr hilfreich nachlesen: „für etwas sorgen, eifriges, sorgfältiges Betreiben einer Sache, die durch Übung einer Sache herbeigeführte Gewöhnung an etwas.“ Konkretisierend heißt das: Meditation vertieft und verarbeitet den Text. ‚Meditari‘ heißt, einen Text lesen und lernen, mit Leib, Verstand und Seele erfassen, ihn im Gedächtnis behalten und mit ganzem Willen in die Tat umsetzen. In der Meditatio kommt also auch die Tätigkeit des eigenen Willens und des Intellekts in Gang. In der Literatur kommen Worte wie considerare (erinnern), cogitare (erkennen), inquirere (suchen) und meditari (meditieren) im Zusammenklang vor. Das Wort der Schrift muss reflektierend durchdrungen werden. Was dann entdeckt werden kann, ist zunächst die natürliche Gotteserkenntnis. Die innere Erfahrung des persönlichen Gottes selbst ist ein Geschenk von oben, für das wir uns nur bereiten können. Eine Art der Übung ist in diesem Zusammenhang noch ganz wichtig: die ‚ruminatio‘ – das ständige, halblaute Vor-Sich-Hersagen, das Murmeln von Versen und Texten der Hl. Schrift. ‚Ruminatio‘ heißt: das Wiederkäuen. Das Wort Gottes ist die tägliche Nahrung, die immer wieder ‚durchgekaut‘ werden musste, um Geschmack daran zu finden. Auch schwer verdauliche Kost kann auf diese Weise stärkende Nahrung werden, die den Hunger nach Gott zu stillen vermag. Dies, so meine ich, ist besonders für uns alle auch eine wichtige Realität unseres täglich gesungenen Stundengebetes. Sinn und Zweck dieser Übung ist, auf diesem Weg diese Texte auswendig zu lernen und sich einzuprägen. Hier ist entscheidend das Gedächtnis gefordert. In der frühen Kirche wusste man noch um die Notwendigkeit und den Nutzwert des Auswendiglernens. Das war nicht bloß eine Sache der Kostenersparnis – ein Buch kostete in damaliger Zeit oft mehreren tausend Schafen das Leben. Vielmesste man: was man auswendig kennt, kennt man auch inwendig. Die englische und französische Sprache hat das bis heute bewahrt – learning by heart – par coeur. Das äußere Sich-erobern bewirkt, dass irgendwann das Herz mitschwingt. Das können wir sicher von uns allen nach langen Jahren gelebten Stundengebetes auch aus Erfahrung sagen… Im Tun, im täglichen Sich-üben, wird das Herz näher zum Herrn geführt. Dann werden immer mehr Psalmen persönliche Worte des Glaubens, eigene Worte der Liebe, der Hinwendung zu Christus und zum Vater – in allen Nöten und Wechselfällen des Lebens, in Höhen und Tiefen, in Licht und Schatten. Wenn man sich ein Text so tief eingeprägt hat, entwickelt sich daraus das ganz wichtige Phänomen der Wiedererinnerung. Die Ruminatio bewirkt, dass wir uns spontan und ohne jede Anstrengung an Zitate und Anspielungen erinnern, einzig durch die Ähnlichkeit der Worte. Jedes Wort ist gleichsam ein Haken für eine Fülle von Textverknüpfungen. Ein Text führt uns in ein ganzes Gewebe von Texten und Assoziationen unter der Führung des gelesenen Textes. D.h.: sich erinnern, inne werden. Solches Meditieren setzt selbstverständlich eine theologische Grundhaltung der Kirchenväter und monastischen Tradition voraus: die Einheit der ganzen Schrift. AT und NT bilden eine Einheit, deren Mitte Christus ist. Man versuchte, die Schrift durch die Schrift selbst zu interpretieren. Jedes Wort der Schrift lässt sich nur im Licht der ganzen Schrift erkennen. Deswegen lohnt es sich auch immer wieder, im Stundengebet die Überschrift jedes einzelnen Psalms – ein Zitat des NT und eine Interpretation eines Kirchenvaters mit ins Herz zu nehmen.
Noch ein letzter, nicht unwesentlicher Aspekt des ‚meditari‘ las ich einmal in einem sehr interessanten Buch von Peter Müller, Verstehst du auch, was du liest? Meditari meint ganz wesentlich: sich einüben, trainieren wie im Sport. Z.B. taucht es im Sprachschatz des antiken Militärs auf: die Einübung der Rekruten im Umgang mit den Waffen, ferner in der Rhetorik, in der Musik und in der Poesie. Hier meint ‚meditari‘ das Einstudieren einer Rede, eines Musikstückes oder eines Gedichtes. Die Meditation fordert von uns demnach Mühe, Einsatz der Willenskraft und Ausdauer. Erst dieser Prozess weckt in uns die Sehnsucht nach Gott, das Verlangen, ihn tiefer zu erkennen und zu erfahren. Je mehr die Meditation geübt wird, um so mehr wächst die Sehnsucht, um so stärker dürsten wir nach Gott. Die Sehnsucht wird auf dieser Stufe des Aufstiegs zu Gott aber noch nicht gestillt, sie weist über sich hinaus zur ‚Oratio‘, zum eigentlichen Gebet.

3. Oratio

Oratio ist nun der Augenblick, wo wir unser Verlangen nach spürbarer und erfahrbarer Begegnung mit Gott vor Gott aus dem Herzen heraus ins Wort bringt. Es geht von daher um eine bestimmte Weise des Bittgebetes. ‚Oratio‘ steht im Zusammenhang mit ‚postulatio‘. Inhalt der Bitte ist die Sehnsucht nach Gott, das ‚desiderium‘ . Jede von uns, die betet, die auf der Stufe der Oratio angelangt ist, ist als ganze Person von der Sehnsucht nach Gott ergriffen. Gebet ist dann nicht mehr Tätigsein, sondern ganz Verlangen-Sein, erfüllt sein von Sehnsucht. Wir möchten das Gelesene und Erkannte selbst erfahren und bitten Gott darum. Erst an diesem Punkt wächst die Lesung langsam zu einer persönlichen Begegnung mit Gott hin. Die ‚Schau Gottes‘ – danach richten wir uns aus. Wir können sie aber nicht selbst ins Werk setzen. Sie kann nur von Gott geschenkt werden. Allerdings wird die Begegnung mit Gott auch nicht an der Freiheit jedes Menschen vorbeigehen. Gott und Mensch wirken zusammen. Wir zeigen Offenheit und Bereitschaft, die Gnade zu empfangen, wenn wir Gott im Bittgebet anrufen. Ja, eigentlich ist die Oratio Antwort auf die Anrede Gottes. In der Tradition der Väter und des Mönchtums wird diese Antwort mit Worten Gottes gegeben. All dieses Tun zielt hin auf den letzten Schritt: contemplatio.

4. Contemplatio

Wir erfahren nun, dass der Herr unser Bittgebet erhört und uns entgegeneilt. Gott gewährt uns als freies Geschenk, dass seine Nähe spürbar, erlebbar wird. Im Gebet können wir uns nur auf den Empfang dieser Gnade vorbereiten. Unser Einsatz und unsere Anstrengung sind gefragt. Wir müssen tun, was in unseren Kräften steht. Aber das Ergriffenwerden vom ‚effectus contemplationis‘, einer starken Gemütsbewegung, ist nicht machbar. Es ‚überfällt‘ uns. Urplötzlich wissen wir uns von der Gegenwart des Herrn ergriffen und in uns wird ein tiefes Verlangen nach der Anschauung Gottes geweckt. All das entzieht sich einer rationalen Darlegung. Über Kontemplation kann der Mensch nur in Bildern und Vergleichen sprechen (z.B. dulcedo, Süßigkeit – als Ausdruck der Liebe Gottes, seiner Güte, Milde und Freundlichkeit „Kostet und seht, wie gut der Herr ist. (Ps 33, 9); oder: sobria ebrietas – nüchterne Trunkenheit; oder: biblische Bilder – Braut und Bräutigam, Contemplatio als Taborerlebnis; oder: Jakobskampf) Contemplatio ist letztlich ein Vorgeschmack des Himmels, steht also in einem eschatologischen Kontext. Der volle Genuss steht immer noch aus. In diesem Leben ist nur das kurze Verweilen auf der Stufe der contemplatio gegeben

Zusammenfassend sei gesagt: Gehen wir in der Lectio divina täglich neu auf den Herrn zu, so werden wir erfahren: Jedes Wort ist uns „ein Anruf Gottes um unseres Heiles willen“ (J.Leclercq, Wissenschaft und Gottverlangen), führt uns näher zur Mitte des Glaubens hin, zu Christus, dann sind wir ganz persönlich angesprochen und gefordert, mit Leib und Seele, mit Gedächtnis, Verstand und Willen.

Praktische Schritte zur Lectio divina:

1. Lesen wir den Text laut und langsam.
2. Schreiben wir den Text einmal ab, vielleicht auch mit einer graphischen Gestaltung.
3. Wiederholen wir den Text mehrmals im Sinn der „Ruminatio“, leise in sich hinein „murmelnd“.
4. Hören wir uns selbst beim Sprechen zu.
5. Folgen wir genau dem Wortlaut des Textes.
6. Achten wir auf Wortwiederholungen, inhaltliche Wiederholungen und auf „Brüche“ im Text.
7. Versuchen wir den Text in seiner Struktur zu verstehen.
8. Wie können wir den Textsinn zusammenfassen?
9. Assoziieren wir den Wortlaut mit anderen biblischen oder auch außerbiblischen Texten.
10. Verbinden wir den Text mit Zeitereignissen und eigenen Erfahrungen im Rahmen Ihrer Möglichkeiten.
11. Gibt es Fragen, die uns der Text stellt?
12. Bringen wir unsere Gedanken, unsere Fragen, unsere Bitten vor Gott!
13. Versuchen wir, Gott Antwort zu geben.
14. Vergessen wir nicht, Gott für sein Wort zu danken.

 

Wie alle Benediktinerinnen leben auch die Schwestern der Abtei St. Hildegard nach jener Ordensregel, die über 1400 Jahre alt ist und auf den hl. Benedikt zurückgeht. Diese Regel ist der Niederschlag einer langen Mönchstradition, zugleich aber auch einer sehr persönlichen geistlichen Erfahrung. Geprägt von Gottesliebe und Menschlichkeit, von österlicher Glaubensfreude und einem nüchternen Wissen um den Menschen, ist sie in ihren wesentlichen Aussagen auch heute noch unverändert gültig und aktuell.

Die Mönche sollen Gott in Liebe fürchten und nichts höher stellen als Christus. (Benediktusregel, Kap.72)

Sinn und Ziel eines monastischen, d.h. kontemplativen und klösterlichen Lebens ist nicht der Erfolg; weder Konsum noch Leistung, noch caritative Zwecke werden angestrebt. Monastisches Leben ist der Versuch, in Gottes Gegenwart zu leben, jeden Tag neu. Deshalb erhält ein solches Leben seine Prägung durch den Lobpreis Gottes, durch das Gebet. Es geht darum, jeden einzelnen Tag vor Gott zu bringen und zu heiligen – bewußt abseits der rasch wechselnden geistigen und gesellschaftlichen Modetrends; und dies in der Freude und Freiheit der Kinder Gottes. Weiterlesen

Laudes
Das Morgenlob in der Frühe des neugeschenkten Tages ist ganz von Lobpreis und Dank bestimmt. Jeden Morgen findet es seinen Höhepunkt im Lobgesang des Zacharias, dem „Benedictus“, mit dem die Kirche Christus als das aufstrahlende Licht aus der Höhe begrüßt. Weiterlesen

Anfahrt:

Unser Kloster liegt mitten in den Weinbergen oberhalb der Stadt Rüdesheim am Rhein. Sie erreichen uns:

per Flugzeug: Flughafen Frankfurt am Main, dann Zug oder Auto Richtung Wiesbaden. Von dort aus per Bahn nach Rüdesheim oder per Auto auf der Bundesstraße 42 nach Rüdesheim.

per Bahn: Bahnhof Rüdesheim am Rhein

per Auto: von Norden kommend A3 Richtung Frankfurt, Wiesbadener Kreuz A 66 Richtung Wiesbaden, dann auf die B 42 Richtung Rüdesheim. Am Ortseingang rechts der Ausschilderung „Abtei St. Hildegard“ folgen.Von Süden kommend A 61 bis Autobahnkreuz Bingen, dann Richtung Bingen Innenstadt und mit der Fähre über den Rhein nach Rüdesheim. Ab der Ortsmitte der Ausschilderung „Abtei St. Hildegard“ folgen.

Benediktinerinnenabtei St. Hildegard
Postfach 1320, D – 65378 Rüdesheim am Rhein
Klosterweg, D – 65385 Rüdesheim am Rhein
Tel.: 0049/(0)6722/499-0; Fax: 0049/(0)6722/499-178

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