„Scivias“-Kodex: Tafel 5: Die Seele und ihr Zelt

„Es sieht alle Menschen, die ins Leben kommen, genau voraus,
mögen sie einst verworfen oder gerettet werden.“ (Scivias I. 4. 9.)

Der kosmologischen dritten Vision folgt eine Vision mit anthropologischen Ansätzen. Sie schildert den Weg des Menschen von den ersten Regungen im Mutterschoß bis zur Trennung der Seele vom Leib. Dem reichen Gedankengut entsprechend gehören zu der Vision drei Miniaturen. Die erste, die wir nun betrachten, mutet auf den ersten Blick kompliziert an, aber die Auslegung Hildegards hilft, die einzelnen Elemente zu verstehen.
Die liegende Frau mit einem Kind im Schoß auf dem linken Feld lässt vermuten, dass es hier um die Empfängnis des Menschen geht. Das glänzende Viereck bedeutet das Vorauswissen Gottes: „Es sieht alle Menschen, die ins Leben kommen, genau voraus, mögen sie einst verworfen oder gerettet werden.“ (SV I.4. 9.) Es stellt sich sofort die Frage: “Was soll der Mensch tun, wenn Gott im voraus alles weiß, was er verfügen wird?“ (ebd.) Die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem Vorauswissen und menschlicher Freiheit durchzieht die ganze christliche Geschichte. Dabei ist zu betonen, dass Vorauswissen nicht mit Vorherbestimmung gleichgesetzt werden darf. Gott bestimmt keinen Menschen zum Bösen. Hildegard stellt sich der Klärung des Problems, in dem sie in dieser Vision verdeutlicht, dass menschliche Freiheit sich nur im guten Handeln und im wahren Lobpreis Gottes verwirklichen kann, das böse und gottlose Handeln demgegenüber aber die Freiheit des Menschen verkehrt. In einem durchaus überraschenden Bild drückt Hildegard aus, dass diese Freiheit des Menschen von seinen Eltern beeinflusst wird: Die Menschen, die auf der Miniatur Milch in Gefäßen tragen und daraus Käse bereiten, deuten darauf hin, dass Männer und Frauen die Menschensamen in ihren Leibern tragen, und je nachdem welche Qualität der Same hat, werden die Eigenschaften des gezeugten Menschen geprägt. Aber der Mensch wird dadurch keineswegs determiniert; ihm ist die Freiheit anvertraut und damit die Verantwortung für sein Leben aufgegeben.
Weiterhin sehen wir auf dem linken Feld der Miniatur, dass ein Feuerstrahl die Seele, das Herz des Menschen, in Besitz nimmt, sein Gehirn berührt und sich durch alle Glieder hindurch ergießt. Nachdem sich der Mensch so im Mutterschoß gebildet hat und geboren ist, beginnt er, sich zu Taten zu regen. (SV I.4.16.) Drei Pfade, wie Hildegard sie nennt, trägt der Mensch in sich: die Seele, die Sinne und den Körper, wobei die Kräfte der Seele weiter gegliedert werden in: Erkenntnis, Wille, Gemüt und Verstand. Mit ihnen allen zusammen wirkt der Mensch in seiner Leib-Seele-Einheit seine Taten. In der berühmtem Baum-Allegorie erklärt Hildegard die Funktionen dieser Kräfte im Menschen: „Die Seele ist für den Körper, was der Saft für den Baum ist, und ihre Kräfte entfaltet sie wie der Baum seine Gestalt. Die Erkenntnis gleicht dem Grün der Zweige und der Blätter, der Wille den Blüten, das Gemüt ist wie die zuerst hervorbrechende, der Verstand wie die voll ausgereifte Frucht. Der Sinn endlich gleicht der Ausdehnung des Baumes in die Höhe und Breite.“ (SV I.4.26.)
Der Weg des Menschen ist vom Kampf gekennzeichnet. In einer großen allegorischen Rede beklagt die Seele die damit verbundenen Leiden. Die Bilder des rechten Feldes der Miniatur geben die mannigfaltigen Anfechtungen der pilgernden Seele wieder. Die hässlichen Tiere und die Folter auf der Kelter versinnbildlichen die Angriffe des Teufels und die von der eigenen Psyche kommenden bedrohlichen Triebe. Inmitten der Qualen bekommt die Seele Kraft und Trost in der Erinnerung an ihre Heimat, an die Mutter Zion. Endlich gelangt die Seele zum Zelt, das sich als ein uraltes Symbol der Menschheit erweist. Das Zelt gilt als Heimat in der Heimatlosigkeit, und ist zwar noch keine bleibende Stätte, aber eine Vorwegnahme der ewigen Heimat. Übertragen bedeutet das Zelt den Selbststand der menschlichen Persönlichkeit: der Mensch findet darin sein eigenes Profil und wird fähig, sich gegen die Gefährdungen zu schützen, sich der Welt zu öffnen und auch Geborgenheit zu finden.

Sr. Maura Zátonyi OSB