„Wohnen in sich selbst“ Brief des Abtpräses an alle Klöster der Beuroner Kongregation

Rundbrief des Abtpräses der Beuroner Benediktinerkongregation, Dr. Albert Schmidt OSB, zum Benediktsfest am 21. März 2020. Für alle Schwestern und Brüder in den Klöstern der Beuroner Kongregation und für alle, die sich unseren Klöstern verbunden wissen.   

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Corona-Pandemie verändert und verunsichert die Welt, auch die Kirche und die Klöster. In dieser Situation, die manches bisher Selbstverständliche außer Kraft setzt, möchte ich Ihnen ein Wort schreiben. So unterschiedlich unsere Klöster auch sind, viele Herausforderungen und Sorgen teilen wir in diesen Tagen und Wochen; ich erwähne nur das Ende des öffentlichen Gottesdienstes, die Schließung unserer Gästehäuser und Klosterläden, die Einschränkung der Kontakte von und nach außen.

Die Oberen und die Seniorate sowie die in der Verwaltung und in den Krankenstationen Tätigen sehen sich in besonderer Weise grundsätzlichen und organisatorischen Fragen gegenüber, deren Rahmenbedingungen sich ständig wandeln. Jede und jeder einzelne muss sich auf die staatlichen, kirchlichen und örtlichen Entscheidungen einstellen. Ich wünsche Ihnen allen „den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ und danke Ihnen für alle Verantwortung und allen Verzicht, die Sie persönlich und gemeinsam auf sich nehmen. Dieser Dank gilt auch den Angestellten der Klöster und den Angehörigen der Pflegedienste, die zu uns kommen.

Ich möchte zum Fest des heiligen Benedikt und an der Schwelle zu Ostern eine Erfahrung dieser Tage und einige Gedanken mit Ihnen teilen. Beim Stundengebet erlebe ich, wie Worte aus den Psalmen in neuer Unmittelbarkeit sprechen, an Leuchtkraft und Wärme, aber auch an Wucht gewinnen. „Furcht und Zittern erfassten mich … mein Elend ist aufgezeichnet bei dir … an einen sicheren Ort möchte ich eilen … du hast mich gebeugt, weil du treu für mich sorgst … birg mich im Schatten deiner Flügel … von deiner Güte, Herr ist die Erde erfüllt“ – dieses vielstimmige Lied habe ich am vergangenen Dienstag allein bei der Morgenhore und Terz aus den Psalmen herausgehört.

Das gemeinsame und persönliche Beten vor Gott und für die Welt ist in der gegenwärtigen Situation mehr denn je unser Auftrag und für uns selbst ein „Anhaltspunkt“: Wir halten in unserem Tageslauf an, und wir halten und wenden uns an den lebendigen Gott. Selbst unsere unauffällige tägliche Bitte am Ende unserer Horen, Gottes Hilfe möge auch „mit unseren abwesenden Brüdern und Schwestern“ bleiben, erhält jetzt eine tiefere Bedeutung: Über die eigenen Mitbrüder und Mitschwestern hinaus können wir damit auch all jene Menschen Gott ans Herz legen, die wegen der notwendigen Nicht-Öffentlichkeit unserer Gottesdienste nicht mehr mit uns zusammen beten und feiern können.

Wir stehen vor dem Hochfest des heiligen Benedikt. Drei Szenen und Worte aus seiner Vita sind mir in diesen Tagen in den Sinn gekommen: Benedikt sieht in der nächtlichen Vision (Dialoge 2,35) kurze Zeit vor seinem Tod „die ganze Welt wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt“. Gregor deutet diese Erfahrung so: „Hat die Seele auch nur ein wenig vom Licht des Schöpfers erblickt, wird ihr alles Geschaffene verschwindend klein.“- In der globalen Corona-Krise erleben wir, wie die Welt zusammenschrumpft und zum Spielball eines Virus wird, der – aufgrund der menschlichen Mobilität – die Grenzen von Ländern und Kontinenten überspringt. Wenn wir durch spürbaren Verzicht auf die gewohnte Bewegungsfreiheit dazu beitragen, die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, dann ist unser Glaube an den Schöpfer, vor dem alles Geschaffene, auch ein Virus, „verschwindend klein“ wird, keine billige Ausflucht, sondern Grund zu demütiger Hoffnung.

Etwa in der Mitte der Vita lesen wir von einem Besucher Benedikts, der ihn bitter und ohne Ende weinend antrifft – „nicht wie er es bisweilen beim Beten tat, sondern aus großem Kummer“. Benedikt sieht den Untergang des Klosters Montecassino voraus, das er erbaut hat, und sagt seinem Gast: „Nur mit Mühe habe ich erreichen können, dass mir das Leben der Brüder zugestanden wurde“ (Dialoge 2,17).- Die Pandemie führt die Menschheit an ihre Grenzen und in Erfahrungen der Ohnmacht; sie wirft Pläne über den Haufen, kostet Menschen das Leben oder bedroht ihre wirtschaftliche Existenz. In dieser Not ist unser fürbittendes Gebet, das keine Ansprüche stellt, aber nicht aufhört, Gott anzusprechen und anzurufen, ein unschätzbarer Dienst und Beitrag für die Welt und die Kirche.

Wir müssen unsere Sozialkontakte reduzieren, auf Reisen verzichten und uns auch auf Ausgangssperren gefasst machen. Der überwiegende Aufenthalt in den eigenen vier Wänden, der Verlust an geselligen Begegnungen und kulturellen, sportlichen und anderen sozialen Erlebnissen, bei den Familien die Sorge für die Kinder, deren Kindergärten und Schulen geschlossen sind: je nach den äußeren Umständen und den persönlichen Einstellungen tragen die Menschen unterschiedlich schwer daran. Für die Herausforderung und Fähigkeit, es mit sich selbst auszuhalten, kennen wir aus der Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt das Wort habitare secum, „wohnen in sich selbst“, wie er es nach seinem Scheitern in Vicovaro und der Rückkehr nach Subiaco geübt hat (Dialoge 2,2).

„Wohnen in sich selbst“: Könnte das eine konstruktive Umschreibung dessen sein, was die Worte „Quarantäne“ und „Ausgangssperre“ beim ersten Hören so bedrohlich und negativ klingen lässt? Machen wir uns nichts vor: Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit fällt auch uns nicht leicht, und die eigene Zelle erweist sich nicht immer als willkommene und friedvolle Zuflucht. Dass Benedikt nach den Worten Gregors „an die Stätte seiner geliebten Einsamkeit“ zurückkehrte und es dort aushalten konnte, ist nicht einfach die Leistung eines Lebenskünstlers. „Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe herniederschaut, wohnte er in sich selbst“: Diesen Blick zu suchen und zu erwidern, gibt unserem Leben auch in Zeiten der Krise Sinn und Grund.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, in drei Wochen feiern wir Ostern, diesmal ohne Gäste und ohne Gemeinde. Das Evangelium am Zweiten Ostersonntag werden wir dieses Jahr mit anderen Ohren hören: „Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: ‚Friede sei mit euch!‘“ (Joh 20,19). Im Vergleich zu den Jüngern zwingt uns eine ganz andere Furcht, die Türen zu unseren Kirchen zu verschließen. Doch derselbe Herr, der das Grab, die verschlossenen Türen und die Furcht seiner Jünger überwand, kommt auch in unsere Mitte und eröffnet uns und allen – drinnen und draußen – Seinen Frieden.

Wir teilen und verkünden diesen Glauben und diese Hoffnung. Begehen und gehen wir, ermutigt durch das Wort des heiligen Benedikt und durch sein Leben, den Weg unseres Herrn zum Kreuz und zur Auferstehung! Durch Seinen Geist sind wir im Gebet miteinander verbunden. Ich grüße Sie alle von Herzen.

Ihr fr. Albert