Der Weg der Lebenskräfte

Wenn Hildegard im Buch der Lebensverdienste 35 Tugenden und Laster vorstellt, ist es kein bloßes Aufzählen von zwei Reihen negativer und positiver Haltungen. Durch die Gestalten zeichnet sich eher ein Weg ab, der eine innere Logik hat: Der eine Schritt folgt dem anderen, von der Weltliebe bis zum Weltschmerz in die eine Richtung, von der Liebe zum Himmlischen bis zur himmlischen Freude in die andere Richtung. Der Mensch wird in eine Dynamik einbezogen, aber keineswegs determiniert. Selbst die Tatsache, dass in der großen Vision Hildegards die Laster und die ihnen antwortenden Gotteskräfte auf fünf Gruppen verteilt sind, zeigt, dass immer wieder Neuanfänge gesetzt werden können, wo der Mensch sich wieder aufrichten und nach dem Guten ausrichten kann. Weiterhin sind es gerade die Tugenden, die in jedem Moment lasterhaften Verhaltens heilende Kräfte anbieten. Die Schilderung des Prozesses kommt aus dem Leben und drängt nach Leben. Verwirklichung findet statt beim Nachvollzug guter Motivationen, die mit erfinderischer Wachsamkeit den eigenen Umständen angepasst werden müssen.

Im Folgenden werden uns die Bilder auf dem Weg der Lebenskräfte führen. Nach einer kurzen Einleitung zu der jeweiligen Gruppe sehen wir auf der einen Seite je das Bild des Lasters, ihm gegenüber steht das Bild der Tugend. In den Visionen Hildegards gestaltet sich die Auseinandersetzung der Tugenden mit den Lastern immer wieder auf dieselbe Weise: nach einer Beschreibung der Laster folgt dessen Rede, auf die die Stimme der Tugend aus einer Sturmwolke antwortet. Diesem Modell folgen die Textstellen aus dem Buch der Lebensverdienste, die die folgenden Bilder begleiten. Dadurch kommt Hildegard selbst zu Wort, die in ihrem Werk aufschrieb, was sie in der Schau vernommen hatte.

Die folgenden Texte sind zitiert aus: Hildegard von Bingen: Der Mensch in der Verantwortung (Liber Vitae Meritorum), übersetzt von Heinrich Schipperges, Salzburg 1972, mit mancher Änderung von mir.

Sr. Maura Zátonyi OSB


Die Darstellungen von Sabine Böhm

In der traditionellen Sicht- und Denkweise beherrschen die Laster das Wahrnehmungsfeld, wenn wir das Buch der Lebensverdienste lesen. Beachten wir aber das vorher Durchdachte und konzentrieren wir uns auf die Tugenden und ihre Aussagen, dann müssen nicht mehr die Laster die Hauptrolle spielen, sondern die Tugenden rücken in den Mittelpunkt. Das Format der Bilder weist auf diese Akzentverschiebung hin: neben den in kleinen Bildern gemalten Lastern erscheinen die Tugenden in den Gemälden von akzentuierter Größe. Diese äußere Form lenkt die innere Konzentration auf das Wahrnehmen des Positiven und des Schönen, das sich in der Seele widerzuspiegeln verlangt.
Im Buch der Lebensverdienste sieht Hildegard von den Gotteskräften nichts, sondern sie vernimmt nur ihre Stimme aus der Sturmwolke. Im Scivias hatte sie die schönen Gestalten der Tugenden betrachtet und beschrieben, die dann in den Miniaturen von Scivias dargestellt sind. Mit diesen Darstellungen zu konkurrieren und sie neu nachzumalen lohnt sich wohl kaum. Aber die Visionen Hildegards beschränken sich nicht nur auf das Sehen, sondern auch das Hören hat offenbarenden Charakter. Die Tugenden, die im Buch der Lebensverdienste den Lastern antworten, teilen in ihren Reden neuartige Bilder von ihrem inneren Wesen mit. Auf diese Weise entfalten sich vor unseren inneren Augen andere Gestalten als im Scivias. Diese werden nun von der Künstlerin Sabine Böhm in origineller Weise dargestellt. Zum Beispiel erscheint die Disziplin in Scivias als ein mit Purpurmantel bedeckter Knabe, während dieselbe Disziplin im Buch der Lebensverdienste als über den Gürtel der Heiligkeit von sich spricht; die Barmherzigkeit ist in Scivias in der Gestalt einer verschleierten Frau im goldlichte Mantel verkörpert, im Buch der Lebensverdienste wird sie zu einem überaus lieblichen Heilkraut.
Wenn eine Malerin des 21. Jahrhunderts es unternimmt, das Buch der Lebensverdienste zu illuminieren, so strebt sie nicht danach, den Stil der mittelalterlichen Miniaturen nachzuahmen. Sie bedient sich vielmehr der Möglichkeiten der heutigen Zeit. Die unfigürliche Darstellung ist das wichtigste Merkmal, das diese Bilder von den Miniaturen des Scivias und des Buches der göttlichen Werke unterscheidet. Anschaulichkeit und Abstraktion stehen hier in seltenem Übereinklang. Indem die Abstraktion auf Formen verzichtet, die sich in der sichtbaren Wirklichkeit vorgegeben finden, wird sie fähig, die innermenschliche Wirklichkeit auszudrücken.
Die Wirkungskraft der vorliegenden Bilder liegt vor allem in den Farben. In Hildegards Werk treffen wir auf eine Fülle und einen Reichtum von Farbenbenennungen und deren Bedeutungen.
Die Farben der Bilder in diesem Band wurden nicht von philologischen Farbenuntersuchungen beeinflusst, sondern entströmen der schöpferischen Inspiration der Malerin. Neben typischer Farbensymbolik begegnet uns auch die Originalität der Farbenwahl.
Das Weiß und das Schwarz sind die ersten Farben, die die Grundkonstellation des „Gut und Böse“ am markantesten ausdrücken.
Das Weiß ist charakteristisch für die Lichtqualität: für Gott und dementsprechend für die Tugenden. Das gleiche Charakteristikum enthält das Blau als Farbe der Göttlichkeit. Diese zwei Farben bestimmen die erste Gotteskraft, die Liebe zum Himmlischen, die der Prozession der Tugenden voransteht.
Das Schwarz nimmt seinen Anfang mit dem Sturz Luzifers, es ist ein Erlöschen und ein Stürzen ins Dunkel. Diesen Anfang zeigt das dem göttlichen Blau und Weiß entgegenstellte Lasterbild, das Bild der Weltliebe im ersten Bildpaar. Das Bunte, das selbst den negativen Wert der schwankenden Mannigfaltigkeit und der Zerstreuung in der Welt hat, stürzt in die Finsternis und reißt die ganze Reihe der Laster mit.
Der Licht-Finsternis-Gegensatz ist der Auftakt der Schau der Lebenskräfte. Die weiteren Gegenüberstellungen werden verschiedenartig ausgedrückt. In manchen Tugend-Laster-Paaren kehren Licht und Dunkel zurück, um auf die Grundausrichtung hinzuweisen. Bei anderen Fällen werden Laster und Tugend in derselben Farbe, aber in anderer Tönung gefasst. Umgekehrt können zwei aufeinander prallende Farben – wie grelles Rot und friedliches Grün – einen Kontrast zwischen Laster und Tugend verursachen. Wiederum kann eine fahle Farbe gegenüber einer markanten Farbe den Unterschied zwischen Gut und Böse betonen.
Die farbigen Bilder führen uns die Reichhaltigkeit des Guten und des Bösen vor Augen. Die Vielfalt ist aber allzu groß, dass sie in einem Menschenleben verwirklicht sein könnte. Jedem ist es aufgegeben, den dominanten positiven Charakter in seinem Leben zu entdecken und zu entfalten. Das ist unsere einmalige Berufung. Wir sind Wesen mit endlichen Möglichkeiten, uns ist ja nicht gegeben, alle Tugenden in ausgeprägter Form in unserem Leben darzustellen. Das eine große blendende Licht wird in unser aller Leben in viele Farben gebrochen. Die eigene Farbe und die eigene Form zu finden und ihnen treu zu bleiben – das ist ein Auftrag, der ein ganzes Leben erfüllt.

Sr. Maura Zátonyi OSB

Sabine Böhm

1960 in Hof geboren
Ab 1988 nebenher Beschäftigung mit der Malerei in Praxis und Theorie
1989 erste Ausstellungsteilnahme
Bis 1993 Produktmanagerin in der Textilbranche
Seit 1994 freischaffende Künstlerin
Seitdem zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen

Sabine Böhm lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Sigmundsgrün. Sie war Gründerin und langjährige Vorsitzende des Kunstvereins Hof, gehört zu den Faßmannsreuther Kräuterfrauen – und ist seit 2009 auch als ausgebildete Geistliche Begleiterin für Menschen in spirituellen Krisen tätig.

Schwerpunkt der künstlerischen Arbeit Sabine Böhms in den letzten Jahren sind großformatige Ölbilder, in denen sie ihre Auseinandersetzung mit geistlichen Themen in spirituelle Farberlebnisse verwandelt. Dazu gehören auch meditative Bilder, die in der tiefen Beschäftigung mit der Mystikerin Hildegard von Bingen entstanden sind, sowie eine Bilderserie zum Thema „Engel“. In ihren neuesten Arbeiten hat die Künstlerin die Themen „Wandlung“, „Licht-Erfahrungen“ und andere Bewegungen der Seele in Farben und Formen umgesetzt.

Kontakt: sabine.boehm@t-online.de