„Den Tod täglich vor Augen haben“ (Benediktsregel 4, 47)

Der Monat November ist von alters her ein Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens. Die Natur wirft ihre Blätter ab und bereitet sich auf den Winter vor, und auch wir Menschen sind in dieser eher dunklen Jahreszeit verhaltener und nachdenklicher als sonst. Nicht umsonst liegen die Tage des Totengedenkens, das Allerheiligen- und Allerseelenfest und der Totensonntag im November. Gottlob ist es hierzulande immer noch weit verbreiteter Brauch, an diesen Tagen die Gräber zu besuchen. Das ist gut so, denke ich, denn es ist ein Zeichen dafür, dass wir tief im Inneren spüren, dass die Verstorbenen damit auch ein Stück weit in unserer Mitte lebendig bleiben. Deshalb ist der Friedhofsbesuch auch so wichtig – nicht für die, die uns vorausgegangen sind, wohl aber für uns selbst. Wir brauchen die Erinnerung, um zu wissen, worauf wir stehen und um weitergehen zu können in die Zukunft. In unserer Ordensregel, die Benedikt von Nursia vor inzwischen fast 1500 Jahren niederschrieb und nach der wir heute noch unser Leben ausrichten, steht ein Satz, der mir im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden und mein Leben geprägt hat. Er findet sich im vierten Kapitel, das mit dem Titel „Die Werkzeuge der geistlichen Kunst“ überschrieben ist und insgesamt 74 sehr konkrete Hinweise gibt, wie sinnvolles Leben gelingen kann. Der kurze Satz lautet: „Den möglichen Tod täglich vor Augen haben.“ Ein solches Wort mag erstaunen, zumal in einem Buch, das ganz dem Leben zugewandt ist und das Leben „in Fülle“ vermitteln will. Gehen wir dem Gedanken ein wenig nach: den möglichen Tod täglich vor Augen haben. Ganz sicher nicht gemeint ist damit, sich das vielfache Sterben und die unzähligen Toten eines Tages über den Bildschirm ganz buchstäblich täglich vor Augen zu führen und in die eigenen vier Wände zu holen. Solche Art „Memento mori“, wie das die Alten nannten, lässt innerlich eher abstumpfen, macht gefühllos und lässt uns am Ende kalt, wenn ein Mensch neben uns stirbt. Nein, der heilige Benedikt hat etwas anderes gemeint: den eigenen Tod, die eigene Endlichkeit nicht verdrängen, sondern ihr offen ins Auge blicken. Jeder Tag meines Lebens kann der letzte sein. Dieses Bewusstsein macht mich keineswegs depressiv, sondern im Gegenteil frei und unabhängig – unabhängig davon, etwas erreicht zu haben, jemand zu sein, viel zu haben. Leben im Wissen darum, dass jeder Tag der letzte sein kann, lässt mich anders leben: dankbarer, aufmerksamer für die kleinen und schönen Dinge des Alltags, aufrichtiger den eigenen Schwächen und Macken gegenüber, ja am Ende sogar friedliebender und menschenfreundlicher den anderen gegenüber. Insofern ist der Tod ein gutes Korrektiv für das Leben. Nutzen wir das Allerheiligen- und Allerseelenfest einmal zu einer solchen im wahrsten Sinne des Wortes weltverändernden Art „Memento mori“. Erinnern wir uns unserer Toten und denken wir dabei ruhig auch einmal an den eigenen Tod.

Von Sr. Philippa Rath OSB