Zeitgenössische Darstellungen zum „Liber vitae meritorum“

Darstellungen zum Buch der Lebensverdienste Hildegards von Bingen
Die Werke Hildegards verdanken ihre Berühmtheit nicht zuletzt den Bildern, die die Visionen auf beeindruckende Weise darstellen. Die großartigen Miniaturen zu Scivias und zum Buch der göttlichen Werke sind weithin bekannt. Man soll an das Bild des sogenannten Lucca-Kodex denken, auf dem der Mensch in der Mitte des Kosmosrades steht, oder an die minuziöse Ausarbeitung der Engelchöre sowie an das mandalaförmige Gebilde des Weltalls in der Rupertsberger Prachthandschrift. Während diese Illustrationen bereits im Mittelalter entstanden sind, hat man zum Buch der Lebensverdienste, zum zweiten Hauptwerk Hildegards, bis lang keine Darstellungen geschaffen. Weiterlesen

Wenn Hildegard im Buch der Lebensverdienste 35 Tugenden und Laster vorstellt, ist es kein bloßes Aufzählen von zwei Reihen negativer und positiver Haltungen. Durch die Gestalten zeichnet sich eher ein Weg ab, der eine innere Logik hat: Der eine Schritt folgt dem anderen, von der Weltliebe bis zum Weltschmerz in die eine Richtung, von der Liebe zum Himmlischen bis zur himmlischen Freude in die andere Richtung. Der Mensch wird in eine Dynamik einbezogen, aber keineswegs determiniert. Selbst die Tatsache, dass in der großen Vision Hildegards die Laster und die ihnen antwortenden Gotteskräfte auf fünf Gruppen verteilt sind, zeigt, dass immer wieder Neuanfänge gesetzt werden können, wo der Mensch sich wieder aufrichten und nach dem Guten ausrichten kann. Weiterlesen

I. Wo es anfängt
Entscheidung und Ordnung der Liebe (Tafel 1 – 7)
Die Weichen, die die Richtung des Weges bestimmen, werden gleich zu Beginn im ersten Tugend-Laster-Paar gestellt: in der Liebe zum Himmlischen und in der Liebe zur Welt. An diesem Anfangspunkt steht es dem Menschen zu, sich zu entscheiden, worauf er seine Liebe ausrichtet. Aus dieser inneren Einstellung erwachsen dann die folgenden Haltungen.
Augustinus spricht in seinem großen Werk „Der Gottesstaat“ von zweierlei Liebe: von der bis zur Verachtung Gottes gesteigerten Selbstliebe und von der bis zur Verachtung seiner selbst gehenden Gottesliebe. Beide gründen ihren Staat, die eine den Weltstaat, die andere den himmlischen Staat (De civitate Dei 14, 28.). Ähnlich setzt Hildegard an. Die Liebe zur Welt erscheint in ihrer Vision als eine Äthiopierin, die auf einen Baum voller Blüten klettert und sie an sich reißt. Weiterlesen

Liebe zur Welt

Die erste Gestalt sah aus wie ein Mensch, war aber schwarz wie ein Mohr. Ganz nackt stand sie da. Mit ihren Armen und Beinen hielt sie einen Baum unterhalb seines Astwerks umklammert, aus dem die schönsten Blüten hervorsprossen. Mit seinen Händen griff sie nun hinein in die Blüten, riss sie herunter und sprach:

Wieso sollte ich hinwelken, wo ich doch vor grünender Lebenskraft strotze? … Solang ich noch dieser Welt Schönheit genießen kann, will ich sie mit Wonne umfangen.
Kaum hatte die Gestalt diese Worte geendet, da verdorrte der Baum bis auf die Wurzeln. Er stürzte in die Finsternis und riß die ganze Erscheinung mit sich in die Tiefe.

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Ausgelassenheit

Die zweite Gestalt sah aus wie ein Hund, der zu streunen pflegt. Er stand auf seinen Hinterpfoten und hatte die Pranken an einen aufrecht stehenden Stock gelegt, während sein Schwanz spielerisch hin- und herwedelte. Und er sprach:

Was könnte dem Menschen schon eine Freude schaden, die ihm wenigstens etwas zum Lachen bringt? … Drum lasst uns fröhlich sein, solange es hier noch etwas zum Freuen gibt!

 

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Vergnügungssucht

Die dritte Erscheinung glich einem Menschen, der eine völlig verunstaltete Nase hatte … Und die Gestalt sprach:

Wieviel besser ist es doch, sich zu verlustieren statt Trübsal zu blasen! … Mensch und Tier und Tier und Mensch, sie treiben lustig ihr Spiel miteinander! So ist es recht, so soll es sein!

 

 

 

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Herzenshärte

Die vierte Erscheinung ballte sich wie ein dichter Rauch zu einer menschlichen Gestalt zusammen. Menschliche Glieder besaß sie jedoch nicht, nur große schwarze Augen glotzten aus ihr heraus … Und sie sprach:

Warum sollte ich mich um etwas bemühen und gar kümmern? So was werde ich schön bleibenlassen. Ich will mich für niemanden stärker einsetzen, als auch er mir nützlich sein kann … Würde ich auch nur einen Ton von mir geben und mich eine Spur nur in die Angelegenheiten anderer einmischen, was würde das mir nützen?

 

 

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Trägheit

Der Leib dieser Gestalt glich dem Körper eines Wurms, eines knochenlosen Weichtieres … Bebend vor Angst begann dieses Wesen zu sprechen:

Solange ich unter Menschen weile, will ich in Frieden mit ihnen leben. Ob sie Böses oder Gutes treiben, ich werde schön den Mund halten. Für mich kommt mehr dabei heraus auch mal zu lügen oder zu täuschen, als immer nur die Wahrheit zu sagen.

 

 

 

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Zorn

Die sechste Erscheinung hatte das Gesicht eines Menschen. Nur ihr Mund glich dem eines Skorpions, und das Weiß ihrer Augen quoll über die Pupillen hinaus … Aus ihrem Mund aber fauchte sie Feuer um Feuer wie brennende Fackeln. Und sie sprach:

Ich zermale und vernichte alles, was mir in die Quere kommt. Sollte ich das Unrecht gar noch dulden? Was einer will, das man ihm nicht tut, das soll er gefälligst auch mir nicht zufügen. Mit dem Schwert schlage ich um mich, und mit Knüppeln haue ich drein, wenn jemand mir ein Leid antun wollte.

 

 

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Törichte Freude

Die siebente Erscheinung hatte vom Scheitel bis zu den Lenden Menschengestalt, aber die Hände wie ein Affe. Von den Lenden abwärts sah sie aus wie eine Ziege. Ihre Füße steckten so tief in der erwähnten Finsternis, dass ich sie nicht mehr vollkommen erkennen konnte. Auch trug sie keinerlei Gewand, war vielmehr ganz und gar nackt. Und sie sprach:

In mir selbst finde ich das süße Leben und schön ist der Weg, den ich wandle … Ich weiß genau, was ich von diesem Dasein zu halten habe. Und ich begehre nichts weiter, als mein Leben zu leben!

 

 

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