Ansprache von Mutter Dorothea beim Hildegardisfest 2017

Lieber Bischof Georg, liebe Pilger, Verehrer und Freunde der heiligen Hildegard!

Wir feiern heute das Hildegardisfest, fast fünf Jahre nach der Erhebung Hildegards zur Kirchenlehrerin am 7. Oktober 2012. In diesem Jahr fällt das Fest mit dem Ende der Limburger Kreuzwoche, dem Kreuzfest, zusammen.

Christlicher Glaube und das Kreuz sind untrennbar verbunden, so gehörte das Kreuz auch zum Leben und zur Verkündigung der heiligen Hildegard von Bingen, die für den Glauben, das Evangelium und die Wahrheit brannte.

Ihr erschlossen sich die Heiligen Schriften und das, was das Evangelium konkret für unser Leben bedeutet und fordert, durch die Stimme aus dem Himmel, die zu ihrem Innern sprach, durch das lebendige Licht, das sie zu Worten und zu Taten drängte.

Zur Gnade und zum Licht gehören immer auch Abgrund und Dunkel des Kreuzes. Wir erfahren das auch heute jeden Tag. Gerade in unserer Zeit müssen viele Menschen, auch Christen, wegen ihres Glaubens viel Leid und Verfolgung erfahren, Benachteiligung und sogar den Tod. Wo nur Schmerz zu sein scheint, gibt es doch auch Mut, Standhaftigkeit und die Kraft des Erleidens, die als Kraft und fruchtbringende Energie in der Welt bleibt – so wie aus dem Opfer, dem Kreuzestod Christi das Leben der Kirche erwächst.
Die Liebe Christi hat seit Beginn des Christentums bis zu uns hin viele Menschen berührt. Sie hat ein Feuer in ihnen erweckt, das sie befähigt, selbst ein Werkzeug der Liebe zu werden – immer wieder auch Zeugen der Liebe bis zur Selbsthingabe zu werden. Dies sehen wir an den großen Heiligen, aber auch an allen Menschen, die treu ihrem Gewissen folgen, sich für andere einsetzen und Licht in die Welt tragen.

Hildegard hat Christus im lebendigen Licht erfahren und gehört. Sie hat die Herrlichkeit Gottes, die Wahrheit und die abgrundtiefe Liebe Gottes erfahren – und sie hat dabei auch das Kreuz erlebt, das wesenhaft zur Herrlichkeit gehört.

So hörte Hildegard durch das lebendige Licht und schrieb in ihrem Hauptwerk SCIVIAS:

„Ich, das lebendige Licht, das das Dunkel erleuchtet, habe den Menschen, den ich wollte und den ich, wie es mir gefiel, erschüttert habe, in großen Wundern über das Maß der alten Menschen hinausgestellt, die in mir viele Geheimnisse schauten. Doch ich habe ihn auf die Erde hingestreckt, damit er sich nicht in irgendeiner Überheblichkeit seines Geistes aufrichtet.“

 

Die „Erschütterung“, das „Hingeworfen-Sein“, die Demut, die Erfahrung der Unwissenheit im Licht des Allwissens und der Herrlichkeit Gottes – dies sind die Weisen wie der begrenzte Mensch auf das Geheimnis Gottes reagiert, wenn er sich in Aufrichtigkeit und Wahrheit dafür öffnet.
Diese Erfahrung ist durch die Generationen vertraut. Hildegard hat sie intensiv gelebt und auch wir, jeder/jede einzelne hat daran Teil und ahnt um die verborgene Fruchtbarkeit und Kraft dieser „Erschütterung“.

So hat Hildegard das Kreuz erlebt, wenn sie konkret auf das Krankenlager geworfen wurde, weil sie sich scheute, die Worte des lebendigen Lichtes aus sich heraus dringen zu lassen.

Auch wir kennen ein Ringen um die Wahrheit, ein Ringen in Angst und in der lähmenden Frage „Wie soll das gehen! Wie soll eine schwere Situation sich lösen, wie soll ich da durchkommen? Wie soll ich das tun, so dass es auch für den anderen gut, gerecht und in der Wahrheit bleibt?“

Wir haben die Zusage des Heiligen Geistes, der uns hilft zu sprechen, zu handeln und das Evangelium auszustrahlen, wie es z.B. im 2. Korintherbrief heißt:

„Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn (3,17-18)“.

Wirklich zu leben, was wir sind und was wir erfahren haben durch Gottes Liebe, geht oft durch das Kreuz, weil es von uns fordert, uns zu lassen, uns erschüttern zu lassen, uns hinzugeben und die Wahrheit und Liebe Gottes ganz durch uns nach außen dringen zu lassen. Die Wahrheit braucht oft Überwindung und Mut, weil sie unbequem sein kann und Änderung, Umkehr einfordert.

Die heilige Hildegard hat Not, Schwäche, Krankheit, das Dunkel des Kreuzes durchlebt und sich dann unter Gottes Willen gestellt. Sie hat erlebt, wie durch ihr Eingehen und Einwilligen auf Gottes Anspruch Gott selbst wirkt, wie Gott Heil, Kraft und Licht schenkt. Und Gott hat durch Hildegard hindurch in besonderem Maße Kraft und Heil geschenkt: damals als sie mit den Menschen sprach und für sie schrieb, wie auch heute, wenn wir ihre Schriften lesen und ihrem Beispiel folgen. Sicher hat sie Stärkung beglückend erfahren, wenn sie sich auf Gottes Willen einließ, doch hat sie wohl auch die Mühsal ertragen und durchlebt. So ermutigt sie uns durch ihr Beispiel, durch ihren Gehorsam.

Sie hat das Kreuz erfahren, wenn ihr Gewissen sie zur Barmherzigkeit drängte und sie dabei auf Widerstand der kirchlichen Autoritäten stieß wie z.B. als sie den Adligen, der sich vor einem Priester bekehrt hatte, beerdigen ließ und daraufhin tiefe Einschränkungen, das Interdikt für ihren gesamten Konvent, erdulden musste. Unverstandensein und daraus Unrecht erleiden, ist ebenfalls eine Form des Kreuzes.

Im Kontext des Kreuzes stehen auch die beiden Gestalten aus der 1. Vision des ersten Teils von SCIVIAS: die Furcht des Herrn und die Armut im Geiste.

„Und vor ihm, am Fuße des Berges, steht eine Gestalt, über und über mit Augen bedeckt. Es ist die Furcht des Herrn, die vor den Augen Gottes in Demut auf das Reich Gottes blickt; umgeben von Klarheit der guten und gerechten Absicht, bewirkt sie in den Menschen Eifer und Beständigkeit … und vertreibt alles Vergessen der göttlichen Gerechtigkeit.“

Die Furcht des Herrn darf nicht mit „Angst“ verwechselt werden: Furcht des Herrn bedeutet Ehrfurcht, aufmerksame und liebende Hinwendung.
Die Furcht des Herrn blickt nur auf Gott, daher ist sie ganz von Augen bedeckt, sie erblickt das Wahre und strahlt daher Klarheit aus. Der Furcht des Herrn folgt die Haltung der Armut im Geiste. Sie folgt treu den lichten Spuren des Gottessohnes. Indem sie sich ganz hingibt, wird sie umflutet von der Herrlichkeit und der Kraft Gottes – so sehr, dass nur noch der Glanz Gottes zu sehen ist, nicht mehr ihr Antlitz:

„Auf ihr Haupt fällt ein so heller Glanz von dem, der auf dem Berg sitzt, dass du ihr Antlitz nicht anzuschauen vermagst; denn die so große Strahlkraft der Heimsuchung durch Ihn, der ruhmvoll über die gesamte Schöpfung herrscht, verströmt die Macht und Stärke dieser Seligkeit so reich, dass du in deiner sterblichen schwachen Betrachtung seine Absicht nicht erfassen kannst; denn Er, der den himmlischen Reichtum besitzt, hat sich demütig der Armut unterworfen.“

Die Furcht Gottes und die Armut im Geiste: Beide sind ganz auf Gott ausgerichtet. Sie schauen ganz auf Gott und sind ganz durchlässig für Gottes Herrlichkeit und Kraft. So verschwindet in Hildegards Bild der Armut im Geiste ganz das eigene Antlitz.

Der Mensch, der auf einem solchen Weg der Hingabe und Durchlässigkeit ist, so dass ihm geschieht nach den Worten Johannes des Täufers: „Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden (Joh 3,30)“ erfährt das eigene Unvermögen, Nicht-Verstehen, seine Angst und Leere als Wunde, Schmerz und Kreuz. Wenn aber das Abnehmen immer mehr von Gottes Wachsen abgelöst wird, wenn der Mensch immer mehr in die Gottesebenbildlichkeit hineinwächst, dann ist das Verschwinden des eigenen Antlitzes ein mehr in Gott hinein und das bedeutet ein Mehr an Wahrheit und ein Mehr an Selbst.

In einem Brief an Abt Philipp schreibt Hildegard: „… gewährt mir eure Gebetshilfe, damit ich in der Gnade Gottes zu verharren vermag. Ihr habt mich bis jetzt vor euch auf meinem Krankenlager da nieder liegen sehen. Denn ich behielt keinerlei Sicherheit in mir und habe all meine Hoffnung und mein ganzes Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes gesetzt.“
Keinerlei Sicherheit in ihr – so empfindet es Hildegard – so sieht sie ihre Wahrheit und es kostet Mut, diese Wahrheit anzunehmen. Und doch liegt gerade im Annehmen der eigenen Unsicherheit Stärke und Kraft, weil sie sich auf eine andere Sicherheit verlassen kann, die sie in Barmherzigkeit umfängt und die in ihr wirkt.

Bei ihrem Tod, so wird in ihrer Lebensgeschichte von Zeitgenossen berichtet, ist am Himmel ein hellstrahlendes Kreuz erschienen – hier ist es das Kreuz der Erlösung, des Sieges über alles, was nicht dem Evangelium entspricht.
Das strahlende Kreuz ist ein Gegensatz, der in unserem Denken nicht aufgelöst werden kann. Gerade durch das Nicht-aufgelöst-werden-Können ist es ein Zeichen der unendlichen Liebe und Herrlichkeit Gottes. Durch das Leben in der Nachfolge kann immer mehr Annäherung an die Unendlichkeit der Liebe, Barmherzigkeit und Herrlichkeit Gottes geschehen. In dieser Unendlichkeit fallen die Gegensätze zusammen und alles wird als strahlende Liebe sichtbar.

Diese unbegreifliche und doch für unser Leben konkrete Unendlichkeit hat Hildegard uns in Ihrer Schau, wie sie sie in ihren Bildern ausdrückte, aufgezeigt und sie hat einen Weg immer mehr in die Wirklichkeit Gottes und in Seine Wahrheit gewiesen.