„Scivias“-Kodex: Tafel 6: Treue in der Versuchung

„Gott, hast nicht Du mich erschaffen?
Siehe, gemeine Erde drückt mich nieder!“ (Scivias I.4.4.)

Hildegard spricht in ihrer Vision von einer Kugel, auf die viele Stürme eindringen. Der Künstler malt auf der Miniatur bereits die hinter den visionären Bildern stehende Wirklichkeit: den Menschen, der Anfechtungen ausgesetzt ist und um Gottes Hilfe fleht. Indem sich die Menschenseele ihrer Situation bewusst wird, wachsen in ihr Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis in gleichem Maße.
Der Mensch nimmt seinen irdischen Zustand als ein Fremdsein wahr, das von äußeren und inneren Versuchungen gekennzeichnet ist. Einerseits lauert der Teufel auf den Menschen, um sich seiner zu bemächtigen, was auf der Miniatur sehr anschaulich dargestellt wird: teuflische Gestalten zielen mit ihren Pfeilen auf den Menschen. Andererseits erfährt der Mensch seine Widersprüchlichkeit, indem die fleischliche Begierde ihn am guten Werk hindert. Gott hat den Menschen als Leib-Seele-Einheit erschaffen, deswegen ist die Leiblichkeit des Menschen eine Gottesgabe. Infolge des Sündenfalls ist aber das harmonische Verhältnis zwischen Leib und Seele gebrochen, und der Mensch erlebt die Begierden des Leibes als Gefährdung.
In dieser seiner geschöpflichen Existenz steht der Mensch am Scheideweg (vgl. SV I.4.30.).
Wenn er Gott gegenüber seine kreatürliche Abhängigkeit leugnet, wird er auf sich selbst zurückgeworfen. Herzenshärte, Traurigkeit, Zweifel und Verzweiflung markieren dann seinen Weg. In einem Aufschrei bekennt die Seele:
„Die alte Schlange lenkt meine Erkenntnis ab von der Furcht des Herrn, so dass ich nicht scheue, das Böse zu tun, da ich mir sage: ´Wer ist denn Gott? Ich weiß nicht, wer Gott ist.´ Ihre trügerische List treibt mich zur Verstocktheit, so dass ich hart werde in der Sünde. Das mörderische Gift ihrer Bosheit raubt mir alle geistliche Freude, so dass ich weder am Menschen noch an Gott mehr froh werden kann, und so stürzt sie mich endlich in den Zwiespalt der Verzweiflung, da ich nicht mehr weiß, ob ich gerettet werden kann oder nicht.“ (SV I.4.6.)
Der andere Weg, den der Mensch einschlagen kann, ist das treue Ausharren in aller Versuchung, die er in seiner gefallenen Natur erfährt. Das Schlüsselmoment ist die „Erinnerung“. Sie verbindet Gottesfurcht, Wahrheit und Demut: Der Mensch gedenkt dadurch seines Ursprungs in Gott und seiner Realität als gefallenes und erlöstes Geschöpf, und in dieser lebendigen Gottes- und Selbsterkenntnis weiß er sich dem Kampf zu stellen: „Aber wenn ich durch die Gnade Gottes mich erinnere, dass ich von Gott geschaffen bin, dann antworte ich inmitten all der Bedrängnisse den teuflischen Einflüsterungen: ´Ich werde der gebrechlichen Erde nicht weichen, sondern männlich wider sie streiten´“ (SV I.4.6.).
Mögen die Feinde mit ihren Pfeilen auf ihn zielen, mögen negative Regungen wie Zorn, Haß oder Stolz den Menschen bedrücken, er wird stehen bleiben können, wenn er im Aufblicken zu Gott seine Zuflucht nimmt. Solange der Mensch in allen Stürmen des Lebens noch zu Gott aufseufzen und ihn als Du ansprechen kann, bleibt ihm immer ein Schimmer der Hoffnung. Auf der linken oberen Ecke der Miniatur bricht gerade dieser Lichtstrahl in die sonst so bräunlich-dunkle Szene hinein: Gottes Hand. Und Hildegard hört auch die Stimme Gottes, die dem tapfer kämpfenden Menschen seine Hilfe verheißt: „Wenn das Böse in dir aufsteigt und du nicht weißt, wie du es abschüttelst, dann – berührt von der Berührung meiner Gnade […] – rufe, bete, bekenne und schreie, dass Gott dir zu Hilfe kommt und dir das Böse wegnimmt und deine Kräfte im Guten festigt. […] Und ich reiche den Bußfertigen meine Hand und kehre ihre Bitterkeit in Süßigkeit, so dass sie die Buße, die sie mit vieler Schwierigkeit begonnen haben, in Frieden zu Ende führen“ (SV I.4.30.).

Sr. Maura Zátonyi OSB