Prophetin durch die Zeiten

Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine der bedeutendsten Frauen des deutschen Mittelalters und ist heute weit über die Grenzen ihrer rheinischen Heimat hinaus bekannt. Ihre Zeitgenossen zog sie gleichermaßen in ihren Bann wie die Menschen, die heute nach Orientierung im Glauben, nach Ganzheit und Heil suchen. Am 7. Oktober 2012 wurde Hildegard von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin erhoben, eine Ehrung, die bisher in der Geschichte der Kirche nur 30 Männern und vier Frauen zu Teil wurde.

Hildegards theologisches, philosophisches, musikalisches und naturkundliches Werk und Selbstverständnis trägt stark visionäre und prophetische Züge. Göttlicher Ursprung dessen, was sie im „Lebendigen Licht“ geschaut und gehört hat, und Sendungsbewusstsein der Prophetin zeichnen es gleichermaßen aus. Die heilige Hildegard wollte die Menschen ihrer Zeit aufrütteln und der Gottvergessenheit entgegentreten. Dabei predigte sie keineswegs eine weltlose Innerlichkeit. Ihr ging es um die religiöse Deutung des gesamten Kosmos, um ein konsequent gelebtes christliches Leben. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Dasein in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe, war Geschenk und Aufgabe zugleich.

Hildegards Schriften schöpften vor allem aus der Heiligen Schrift, der Liturgie und der Regel des hl. Benedikt, aus den Quellen also, aus denen Hildegard als Ordensfrau und Benediktinerin lebte. Aber auch die Kirchenväter und die großen theologischen Denker ihrer Zeit kannte sie gut. Drei große theologische Werke hat Hildegard verfasst. In ihrem ersten Werk „SCIVIAS – Wisse die Wege“ schlägt sie einen großen heilsgeschichtlichen Bogen von der Schöpfung der Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und Vollendung am Ende der Zeiten. Die ewige Geschichte von Gott und Mensch, von Abkehr und Hinwendung des Menschen zu seinem Schöpfer wird in immer neuen Bildern anschaulich gemacht. Beeindruckend an Hildegards Visionsschriften ist vor allem ihre elementare Sprachgewalt. Hildegard erweist sich dabei nicht nur als souveräne Theologin, sondern ebenso als Dramaturgin und Dichterin.

Letzteres fand seinen Niederschlag auch in der Komposition von 77 Liedern und dem Singspiel „Ordo Virtutum – Spiel der Kräfte“, in dem sie den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse in 35 dramatischen Dialogen zur Darstellung bringt. Theologisch brachte sie dasselbe Thema in ihrem zweiten großen Hauptwerk, dem „Liber Vitae Meritorum – Buch der Lebensverdienste“ noch einmal zur Sprache. Der Mensch, so Hildegards Grundanliegen, ist frei geschaffen und sein Leben lang in die Entscheidung gestellt, seiner in der Schöpfung grundgelegten Gottesebenbildlichkeit zu entsprechen. „Werde, was du bist – Mensch, werde Mensch!“, dieses heute so oft zitierte Wort könnte dem Denken Hildegards entnommen sein.

In ihrem dritten Werk, dem „Liber divinorum operum – Welt und Mensch“, einer gewaltigen Kosmosschrift, lässt Hildegard die Welt als Kunstwerk Gottes aufstrahlen. Der Mensch erscheint als Mikrokosmos, der in all seinen körperlichen und geistigen Gegebenheiten die Gesetzmäßigkeiten des Makrokosmos widerspiegelt. Alles ist aufeinander bezogen, wechselseitig miteinander verbunden und in Gott untrennbar vereint.

Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist auch ein Schlüssel zu Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften. Diese sind ganz davon geprägt, dass Heil und Heilung des kranken Menschen von der Hinwendung zu Gott, der allein gute Werke und eine maßvolle Ordnung des Lebens hervorbringt, ausgehen kann. Auch hier war Hildegard nicht nur eine Prophetin ihrer Zeit, sondern kann auch dem heute suchenden Menschen Wegweisung und Orientierung geben.

Nachhaltigen Ausdruck verlieh Hildegard ihrem prophetischen Anliegen auch in ihren Briefen, von denen 390 bis heute überliefert sind. Es sind Zeugnisse unerschrockener Direktheit, radikaler Ehrlichkeit, mahnender Sorge, erfrischend-humorvoller Weitherzigkeit, persönlichen Engagements für die Armen und weitreichender kirchenpolitischer Einflussnahme. Hildegard galt als anerkannte Autorität ihrer Zeit. Viele suchten ihren Rat, auch wenn er oft unbequem war. Die heilige Hildegard war und ist ein Stachel im Fleisch von Kirche und Welt und eine wahrhafte Lehrerin der Kirche – bis heute. Sie starb am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei Bingen.

Sr. Philippa Rath OSB