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Ganz und gar Benediktinerin

Hildegard von Bingen, die zwei von ihr gegründeten Frauenklöstern vorstand und als Prophetin ihrer Zeit galt, bezeichnete sich in ihren Werken immer wieder als „einfältige Frau“. Eine sorgfältige Lektüre ihrer Werke dagegen verrät eine hochtheologische, sogar philosophische Bildung dieser Frau, die in den großen Fragen ihrer Zeit gleichrangig neben großen Theologen und Denkern stand.
Aus diesem Grund ist die wissenschaftlich-akademische Interpretation ihres Werkes ein durchaus angemessener Weg der Annäherung. Andererseits sind ihre Aussagen immer an den Menschen gerichtet, der nach Heil verlangt und nach Gott sucht. So führt auch der Weg der meditativen, besinnlichen Lektüre ohne philologische Voraussetzungen zu einem bestimmten Verständnis Hildegards, das für das eigene Leben fruchtbar werden kann. Dazu kommt die Popularisierung der sogenannten Naturheilkunde Hildegards, die einer breiten Schicht von Menschen Zugang zu Hildegard gewährt, diesen aber gleichzeitig auch verschließen kann.

Die Stimmen also, die von oder über Hildegard sprechen, sind sehr verschieden geartet. Hildegards Werk ist an Universitäten als Thema wissenschaftlicher Untersuchungen präsent, findet Beachtung bei Ärzten und Heilpraktikern, wird in persönlicher Meditation betrachtet, erklingt in musikalischen Veranstaltungen etc.

Hildegard ist ganz und gar Benediktinerin. Ohne ihre benediktinische und klösterliche Prägung ist sie nur schwer zu verstehen. Sie trägt das Erbe des Mönchtums in sich und gibt es weiter. Die ganze Lehre der Väter ist in ihrem Wesen organisch aufgenommen und erscheint durch ihren genialen Geist umgewandelt in eine neue Aussagekraft.

Die Heilige Schrift ist in einem monastischen Kloster auf vielen Ebenen gegenwärtig, sie prägt das Leben der Mönche und Nonnen in der Liturgie und in der persönlichen Schrift-betrachtung bis in den Alltag hinein. Hildegard ist durchdrungen von der Heiligen Schrift. Selbst wenn ihre Schriften nicht in der Form einer Bibelexegese verfasst sind, so hat jede ihrer Aussagen doch ihre Quelle in der Heiligen Schrift, und die Betrachtungen der Visionen führen den Leser zu einem tieferen Umgang mit der Heiligen Schrift.

Der klösterliche Rahmen bestimmt bei Hildegard auch die Art und Weise der Wahrnehmung des Lebens. Vor allem ist da die Liturgie, die den Tagesablauf bestimmt. Die verschiedenen Tätigkeiten im Kloster werden immer wieder unterbrochen durch die Gebetszeiten. Diese Unterbrechung verhilft zu Sammlung und dazu, den Blick auf das Wesentliche zu richten. In dieser Dimension der Liturgie wird das Leben – das eines jeden Menschen wie auch das Leben der ganzen Menschheitsgeschichte – „im Angesicht Gottes“ betrachtet und erfasst.

Zum Rhythmus der Zeit kommt der Rhythmus des menschlichen Daseins: der Wechsel von Gemeinschaft und Einsamkeit, Nähe und Distanz. In einem Kloster leben Menschen zusammen, die auf ein gemeinsames Ziel hin schauen und einander auf dem Weg der Nachfolge ermutigen, dabei aber mit ihren Schwächen und Stärken einander auch viel zu tragen geben. Neben der Gemeinsamkeit gibt es im Kloster Raum und Zeit für Einsamkeit, die sowohl das Geheimnis der Gottesbegegnung in sich tragen, als auch ein hartes Aushalten von Trockenheit und geistlicher Wüste bedeuten kann.

Dies sind die Grundpfeiler, die ein Leben der Gottsuche in einem benediktinischen Kloster tragen, und die für Hildegard ihren Lebensrahmen bildeten, innerhalb dessen ihr Werk sich entfaltete. Deshalb finden wir viele dieser Momente in ihren Werken wieder. Eine ganzheitliche Interpretation sollte sie immer mit berücksichtigen.

Die aus den monastischen Erfahrungen errungene Erkenntnis ist dabei nicht nur für Mönche und Nonnen aufschlussreich, sie ist dem ganzen Menschsein ureigen. Aber die klösterliche Atmosphäre schafft die Bedingungen für eine Konzentration auf das „eine Notwendige“, so dass sich der Mensch ohne Flucht- und Auswegmöglichkeiten mit dem tiefsten Grund seines Daseins auseinander zu setzen hat.

Die eigene Erfahrung und die göttliche Inspiration, die die menschlichen Einsichten in einem tiefen inneren Zusammenhang führen, treffen sich im Werk Hildegards in erstaunlicher Weisheit. Ihre Botschaft erschließen heißt deshalb, aus dieser Weisheit für uns heute zu schöpfen. Weisheit hat nicht nur mit Wissen zu tun, sondern sie ist erst der Ausgangspunkt. Die in Weisheit gewonnenen Einsichten haben konkrete Konsequenzen: Die benediktinische Lebensweisheit ist eine Form der Liebe, die das Geschaute und Erkannte in den konkreten Dienst des Alltags umzusetzen vermag.

Sr. Maura Zátonyi OSB