Ansprache von Äbtissin Clementia Killewald + am 17. September 2011

„ Eine große Stadt – Mond und Sonne braucht sie nicht,
Jesus Christus ist ihr Licht, ihre Herrlichkeit.“

Von Äbtissin Clementia Killewald OSB

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

wie in jedem Jahr treffen wir uns heute am Fest der Heiligen Hildegard mit vielen anderen Gläubigen und Pilgern in Eibingen zur Reliquienprozession. Wir werden, wenn wir gleich durch die Straßen betend ziehen, das Lied singen: „Eine große Stadt ersteht, die vom Himmel niedergeht in die Erdenzeit, Mond und Sonne braucht sie nicht, Jesus Christus ist ihr Licht, ihre Herrlichkeit“ Das Lied, ein Lied voller Hoffnung, knüpft an das Bild des „Neuen Jerusalems“ an und verkündet einen Ort wahren Lebens. In dieser großen Stadt Gottes sollen die Menschen Zuflucht, Geborgenheit, Licht und Hoffnung finden.

Ein Kontrast zu den großen Städten unserer Welt, in denen es viele Lichter und dunkle Abgründe gibt, wo es neben vielen reichen Menschen immer mehr Arme gibt. Sie leben unter menschenunwürdigen Bedingungen, meistens ohne Arbeit und einer Perspektive für das Leben.

In unserem Lied ist aber von einer anderen Stadt die Rede, einer Stadt, die vom Himmel herabkommt,- von oben, – von Gott her. Damit ist die Kirche gemeint, sie wird nicht allein von Menschen gebaut, sondern sie ist das Werk Gottes selber. Und wo Menschen sich auf diesen Gott einlassen, ihn in den Mittelpunkt stellen, da wird deutlich, dass Er in ihrer Mitte ist. Hildegard ist davon überzeugt, dass Gott seine Wunderwerke im Menschen wirkt und auch „die Kirche befestigt hat, die über den ganzen Erdkreis verbreitet ist und durch keinen Sturm der Widerwärtigkeiten erschüttert wird, wiewohl sie von mancherlei Bedrängnissen heimgeführt wird. Denn Gott wirkt Seine Werke unablässig“ (neunte Schau, Vollendung des Kosmos, Welt und Mensch).

Bei allen berechtigten Sorgen und Ängsten um unsere Pfarrgemeinden, den Priestermangel und den Rückgang der Kirchenbesucher sollte ein solcher Festtag wie das Fest der Heiligen Hildegard uns neu Mut und Hoffnung schenken, an die Zukunft der Kirche zu glauben und unsere Zuversicht nicht einfach wegzuwerfen. Wir sind eine Gemeinschaft von Hoffenden. Das nüchterne Rechnen mit der Situation der kleinen Herde heute und überall kann der Kirche die Möglichkeit geben, ihre endlichen missionarischen Kräfte ohne Verzettelung in bestimmten, ausgewählten Richtungen konzentriert einzusetzen. Darin sind auch heute unsere Klöster mit einbezogen.

Hoffnung muss uns ein anderer zusprechen, ein Mensch, der es gut mit uns meint und uns kennt. Die heilige Hildegard hat einem verzweifelten, orientierungslosen und suchenden Menschen ein solches Wort der Hoffnung zugesprochen„Schau auf zum Herrn, und die Welt wird sich verändern, weil du sie mit neuen Augen siehst!“ (Briefwechsel, Hildegard). Dieses zeitlose, prophetische Wort ist heute genauso aktuell wie zu Hildegards Zeiten. Ein Wort, das uns eine Richtung weist und der Schlüssel zu einer neuen Hoffnung in der Kirche ist. Ohne Hoffnung können wir nicht leben. Wo keine Hoffnung ist, da stirbt das Leben, da bleibt alles verschlossen und versinkt in einem Sumpf von Resignation und Verzweiflung. „Die Hoffnung, die wir bekennen, ist nicht vage schweifende Zuversicht, ist nicht ein angeborener Daseinsoptimismus, sie ist so radikal und so anspruchsvoll, dass keiner sie für sich allein haben und nur im Blick auf sich selber hoffen könnte. Erst wo unsere Hoffnung für die anderen mitthofft, wo sie also unversehens die Gestalt und Bewegung der Liebe und Communio annimmt, hört sie auf, klein und ängstlich zu sein“ (J.B. Metz).

Schau auf zum Herrn!“ Das bedeutet, den Blick auf Gott zu richten, der uns das Leben geschenkt hat. Es bedeutet, dass wir nicht ständig nur um uns selber kreisen, sondern uns aufrichten auf einen anderen hin, auf Christus, den Auferstandenen, in dem die Quelle und das Ziel unserer Hoffnung sind.

Wir wissen nicht, ob der hilfesuchende Briefschreiber Hildegards Rat befolgt und daraus neue Hoffnung geschöpft hat. Aber es ist uns bezeugt, dass sehr viele Menschen zu Hildegards Lebzeiten bis in die heutige Zeit aus der Begegnung mit Hildegard neue Hoffnung geschöpft haben. So ist Hildegard wirklich durch alle Zeiten hindurch eine Hoffnungsgestalt der Kirche.

Sie lebte das, was sie lehrte und lehrte, was sie versuchte zu leben. Das machte sie glaubwürdig und überzeugend. Und nach solchen Zeugen suchen die Menschen zu allen Zeiten.

Folgen wir Hildegards Spuren auf dem Weg der Hoffnung. Das Ziel unseres Lebens umschreibt Hildegard mit dem biblischen Kernsatz: „Ich will, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben!“

  1. Hoffen auf den Geist

Hildegard liebte es, von sich selbst als einer „Feder im Windhauch Gottes“ zu sprechen. Sie wollte federleicht sein, ganz vom Geist Gottes getragen und geführt. Sie meint damit nicht ein zielloses Umherschweifen oder ein hilfloses Hin – und Hergeworfen – Sein im Strudel des Alltags, sondern eine Offenheit und Verfügbarkeit für den Willen Gottes. Sie verstand sich als Werkzeug in den Händen Gottes, als Posaune Gottes“, als Prophetin, die die Wahrheit verkündet- ob gelegen oder ungelegen. Sie wollte nichts Eigenes verkünden sondern das ausführendes Organ eines Größeren sein. An Elisabeth von Schönau schreibt sie: „Auch ich erklinge zuweilen wie ein schwacher Posaunenton des Lebendigen Lichtes. So helfe mir Gott, dass ich ausharre in Seinem Dienst.“

Hildegard war eine Hörende. Das Hören ist für uns Benediktinerinnen ein Schlüsselwort unseres Lebens. Gott öffnet mit dem Hörvermögen des Menschen alle Klänge des Ruhmes über die verborgenen Geheimnisse und die Engelscharen, von denen Gott wiederum gelobt wird. Unwürdig wäre es, wenn Gott nicht ganz aus sich selbst heraus erkannt würde, wo doch schon ein Mensch vom Menschen mittels seines Hörvermögens erkannt wird.“ (aus Welt und Mensch, vierte Schau, Im Anfang war das Wort).

Gemeint ist einmal das Hören in vertikaler Richtung, also auf Gott hin, aber auch Hören in der horizontalen Dimension, im gegenseitigen Hören aufeinander. Ein solches Hören hat es immer mit der Hoffnung zu tun, es führt uns zu einer Offenheit für neue Lebensmöglichkeiten, zu neuen Herausforderungen und Perspektiven.

Hildegard war eine wahrhaft geistbegabte Glaubenszeugin, immer bereit zu hören und neu anzufangen. Trotz ihrer gesundheitlichen Schwächen und Begrenzungen wusste sie, dass der Mensch bis an sein Lebensende ein Werdender ist, ein Noch –nicht – am Ziel angekommener Mensch ist, also ein Wanderer und Pilger auf dem Weg zum Ziel.

  1. Hoffnung als Weg zu Gott und zur Vollendung

In der achten Vision ihres Hauptwerkes „Scivias“ beschreibt Hildegard die Gestalt der Hoffnung mit folgenden Worten: „aus der gläubigen Zuversicht auf Gott erhebt sich die Hoffnung zum Leben, das man auf Erden noch nicht besitzt; es ist vielmehr bis zur Zeit der ewigen Vollendung im Himmel verborgen, und die Hoffnung trachtet danach mit ihrem ganzen Verlangen.“

Hildegard wusste, dass der Mensch ein hoffendes Wesen ist. In jedem Wunsch, den ich einem anderen Menschen zuspreche, klingt Hoffnung auf. Die Hoffnung weist uns über unseren natürlichen Gesichtskreis hinaus; denn in der Hoffnung drückt sich eine Sehnsucht aus, die alle unsere natürlichen Bedürfnisse übersteigt. Von Natur aus können wir das nicht machen, wir können uns aber für das Geschenk der Hoffnung öffnen. Jeder Versuch, sich selbst erlösen zu wollen, endet in der Resignation und Verzweiflung.

Hildegard betrachtet wie in der Tradition der Mönchsväter die Traurigkeit im Sinne von Resignation als ein Laster, das mit aller Macht zu bekämpfen ist. Hildegard wird nicht müde, den Menschen in Erinnerung zu rufen, was er wahrhaft ist: Kreatur und Geschöpf Gottes. Unser Leben ist ein Geschenk Gottes. Aus Liebe sind wir geschaffen und diese Liebe lässt uns vertrauensvoll in der Hand Gottes geborgen sein. Diese unzerstörbare Herkunft von Gott her ist der Grund für unsere Hoffnung.

  1. Hoffnung drängt zur Tat

Die Hoffnung ist kein Besitz, der ein für allemal gesichert ist und mit dem wir ungestört leben können. Man hat der christlichen Hoffnung manchmal vorgeworfen, sie sei so sehr auf die Vollendung der Welt und des Menschen ausgerichtet, so dass nichts mehr übrigbliebe an Hoffnung für das Leben in dieser Welt. Für die heilige Hildegard war es wichtig, dass die Hoffnung, welche den Zielen Gottes gilt, der Ursprung und die Quelle für die Schwungkraft unseres Strebens sein müssen. Unser Handeln in dieser Welt steht in einem engen Zusammenhang mit dem Reich Gottes.

Hildegard war, wie wir wissen, eine engagierte Frau. Sie wartete nicht in aller Ergebenheit und Untätigkeit darauf, dass Gott mit einem Schlag alles zur Vollendung führt, sondern sie zeigte Einsatz, Kraft und Mut zum Wagnis. Sie verstand sich nicht nur als Geschöpf Gottes, sondern sie tat alles, um dem Guten in der Welt zum Sieg zu verhelfen. „Und so ist der Mensch mitsamt aller Schöpfung Gottes Werk. Allein der Mensch ist berufen zum Mitwirken am göttlichen Schöpfungswerke“ (Vita Hildegard II, 35).

Der Mensch, so betont sie immer wieder, hat einen Auftrag in der Welt und trägt Verantwortung für sich und die gesamte Schöpfung. Und das gilt für jeden Menschen.

Die Kirche, so glaubte auch die Heilige Hildegard, ist noch nicht das Reich Gottes in seiner Vollendung, wohl ist das Reich Gottes „in ihr im Mysterium gegenwärtig“ (LG39). Er, der Heilige Geist des erhöhten Herrn, ist die innerste Kraft unserer Hoffnung. „Christus in uns, die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (Kol, 1,27). „Deshalb ist die Hoffnungsgemeinschaft unserer Kirche kein Verein, der sich immer neu zur Disposition stellen könnte, … sie ist pilgerndes Gottesvolk, das sich darin ausweist, dass es seine Geschichte als Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen erzählt, dass es diese Geschichte im Gottesdienst immer wieder feiert und aus ihr zu leben sucht“ (Johann B. Metz).

  1. Hoffnung führt zusammen

Die Hoffnung ist kein Privileg einzelner. Zur Hoffnung sind wir alle berufen, jede und jeder für sich, aber auch für die anderen. Wir Menschen sind füreinander Hoffnungsträger. Wir können uns die Hoffnung nicht selbst zusprechen, es hängt zutiefst von der Art und Weise ab, wie ich mit den Menschen umgehe. Einander anschauen mit den Augen der Hoffnung, mit den Augen der Zukunft, mit offenen Augen und mit den Augen der Liebe – das schafft Hoffnung.

Aber auch unsere Worte, jeder Versuch des Verstehens, jede Geduld, alles wirkliche Zuhören, ja auch jedes Zeichen der Zärtlichkeit sind ein Geschenk der Hoffnung. „Ein gutes Wort geht über die beste Gabe“, so sagt es der Heilige Benedikt.

Hildegard war eine Frau, die zuhören konnte und jedem, der zu ihr kam, ein Wort der Hoffnung zusprach. Sie selbst war aber auch auf ein solches Wort angewiesen, auf Menschen, die sie aufrichteten, wenn sie selbst müde, mutlos oder krank war. Sie hat während ihres Lebens immer wieder die Nähe und den Trost bei Gott gesucht, aber auch die Nähe zu den Menschen, sie hat echte Freundschaften gepflegt, Gemeinschaft gestiftet und geformt. Ihre Briefe sind dafür ein beredtes Zeugnis. Sie sind voller Leben und spiegeln alle Seiten unseres irdischen Lebens wieder. Sie sind durchdrungen von einem unerschütterlichen Glauben, von einer unbändigen Liebe und von einer starkmütigen Hoffnung. Hildegards Briefe lassen uns auch heute aufhorchen und führen immer wieder Menschen auf neue, sinnerfüllte Lebenswege.

Auch heute nach den großen Hildegard – Jubiläen am Ende des vergangenen Jahrhunderts besuchen viele Menschen aller Altersgruppen und verschiedene Nationen hier unten die Pfarrkirche in Eibingen und unsere Abteikirche, weil das Leben und das Zeugnis der Heiligen Hildegard sie in irgendeiner Form angesprochen hat. Manche Pilger unter Ihnen haben sich heute vielleicht auf den Weg gemacht, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

Romano Guardini sagte einmal: „Solches Suchen bedeutet, dass schon ein Finden geschehen ist, deshalb, weil es der lebendige Gott ist, der jedes Suchen und Sehnen bewirkt und darin die Menschen an sich zieht.“Hildegard sah ihre Aufgabe darin, „den Herrn Jesus Christus in ihrem Herzen heilig zu halten und jederzeit bereit zu sein, jedem, der zu ihr kam, Rechenschaft über ihre Hoffnung zu geben, die in ihr lebendig war. (vgl. 1 Petr, 3,15).

  1. Hoffnung gegen alle Hoffnung führt zum Lobpreis Gottes

Immer wieder werden wir in unserem Leben mit dem Tod konfrontiert, denken wir an die kleinen Sterbeprozesse im Laufe unseres Lebens und dann an den Tod am Ende unseres Weges. Durch den Glauben an die Auferstehung und die Hoffnung auf Vollendung ist die Tragik des Sterbens nicht aufgehoben. Der Tod ist geradezu das letzte Sprungbrett zur absoluten Hoffnung. Aus dem Tod, aus jedem Tod, erwächst neues Leben. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bringt es keine Frucht!“ Das gilt auch für die vielen kleinen Tode, die wir in unserem irdischen Leben täglich sterben müssen: Enttäuschungen, Verzichte, Zurücksetzungen, Kränkungen, Zeiten der Krankheiten und das Alter.

Es muss hart für die Heilige Hildegard am Ende ihres Lebens gewesen sein, als die Mainzer Prälaten über das Kloster am Rupertsberg das Interdikt verhängten, weil man dort einen verstorbenen Adeligen auf dem Friedhof beigesetzt hatte, obwohl dieser nicht offiziell vom Kirchenbann gelöst worden war. Die Nonnen durften keinen Gottesdienst mehr feiern und nicht einmal das Stundengebet laut singen. Hildegard war aber so erfüllt von der Bedeutung des liturgischen Gesanges und des Stundengebetes, so dass sie einen sehr ernsten Brief an die Mainzer Prälaten schrieb„Wie der Leib Jesu Christi vom Heiligen Geist aus der unversehrten Jungfrau Maria geboren wurde, so hat auch die Kirche, hat das Singen des Gotteslobes als Widerhall der himmlischen Harmonie seine Wurzeln vom Heiligen Geist. Der Leib aber ist das Gewand der Seele, die der Stimme Leben gibt. Darum muss der Leib seine Stimme im Einklang mit der Seele zum Gotteslob erheben.“

Hildegard, als Benediktinerin, setzte auch in dieser schweren Situation ihre Hoffnung ganz auf Gott und zweifelte nicht an Gottes Barmherzigkeit. Hier geht es nicht um Zweifel oder um eine zeitweise Verzweiflung, die durchaus in unserem Leben einen Platz haben dürfen, sondern hier geht es um die Grundmelodie unseres Herzens, die sozusagen unter der Oberfläche voll Sehnsucht wartet auf das endgültige Gelingen und die Vollendung unseres Lebens.

„Nimm mich auf, o Herr, gemäß deiner Verheißung, und ich werde leben. Und lass mich in meiner Hoffnung nicht zuschanden werden.“ Dieser Professgesang begleitet die Benediktiner und Benediktinerinnen ein ganzes Leben lang. Hildegard hat aus diesen Worten gelebt. Es ist ein einmaliges, dichtes Gebet der Sehnsucht, der Erwartung und der Gewissheit. Keine Hoffnung bleibt unerhört, der Hoffende wird am Ende nicht enttäuscht werden, weil er auf das göttliche Du, auf Jesus Christus, das menschliche Antlitz Gottes ausgerichtet ist.

Als Hildegard am 17.September 1179 starb, soll dabei ein hellstrahlendes Licht am Himmel zu sehen gewesen sein. So dürfen wir wohl gewiss sein, dass Hildegard, die so vielen Menschen eine Zeugin der Hoffnung war und auch heute noch ist, am Ende den schauen durfte, auf den sie ihr Leben lang geschaut und gehofft hat.

Schau auf zum Herrn, und die Welt wird sich verändern, weil du sie mit neuen Augen siehst!“ Hildegard hat aus dieser Hoffnung heraus gelebt.

Folgen wir ihrem Beispiel – heute und alle Tage. Dann wird auch die Kirche von heute neu werden und als große Stadt erstehn, die vom Himmel niedergeht. Ihr Licht ist Christus selbst.

Amen.