„Scivias“-Kodex: Tafel 7: Auszug der Seele aus ihrem Zelt

„Ich ziehe aus meinem Zelt aus.
Aber ich Elende, Leidvolle, wohin werde ich gehen?“
(Scivias I.4.8.)

Parallel zu Tafel 5, die den Anfang des Menschenlebens zum Gegenstand hat, gestaltet sich diese Miniatur, die die letzten Augenblicke des menschlichen Daseins auf Erden und die Ankunft im Jenseits veranschaulicht.
Jeder Mensch muss sich mit dem Tod konfrontieren. Für den mittelalterlichen Menschen war diese Tatsache selbstverständlicher als für uns, die wir Kinder des 21. Jahrhunderts sind, eines Zeitalters, in dem der Tod im allgemeinen Bewusstsein ausgeblendet wird.
Der Tod bedeutet die Trennung der Seele vom Leib. Wie am Anfang die Seele in der Form einer Feuerkugel den menschlichen Leib in Besitz genommen hat, scheidet sie aus dem Körper, dessen uralte Metapher das Zelt ist. Die Auseinandersetzung mit der Realität des Todes ruft sicherlich in jedem Menschen zunächst Angst hervor. Sei es ein Mensch im 12. Jahrhundert oder im 21. Jahrhundert, die Frage bleibt dieselbe: „Ich ziehe aus meinem Zelt aus. Aber ich Elende, Leidvolle, wohin werde ich gehen?“ (Scivias I.4.8.) Wie jede ethische Religion, so glaubt auch das Christentum an das Gericht nach dem Tode, in welchem ein Gericht das Leben des Menschen überprüft und dementsprechend dann die jenseitige Existenz bestimmt wird. Der christliche Glaube lehrt, dass Gott durch dieses Gericht den Menschen nicht einschüchtern will, sondern dass Gott gerade dadurch die Freiheit des Menschen ernst nimmt. Jede Bagatellisierung des Gerichts stellt die menschliche Freiheit in Frage.
Hildegard sieht, dass – während sich die Seele vom Leib löst – gute und böse Engel, die auf das Urteil Gottes, des gerechten Richters, warten und die Seele, sobald sie vom Körper befreit ist, an den Ort führen, der ihnen nach ihren Verdiensten zugewiesen wird (Scivias I.4.8.; I.4.29.). Die Phantasie der Menschen im Mittelalter wusste sich das jenseitige Leben, die Hölle und den Himmel, in lebendigen Bildern vorzustellen. Die Miniatur malt diese Szenen ganz plastisch aus: das verzehrende Feuer der Hölle, in der sich abscheuliche Gestalten herumtreiben, demgegenüber der wonnige Ort des Himmels mit dem Bild eines lieblichen Gartens und einer geschmückten Stadt.
In dieser Miniatur werden viele Themen angestimmt, die Hildegard später sowohl im Scivias als auch in ihren anderen Werken weiter ausführt: der Kampf der guten und bösen Geister um die Seele bildet den Inhalt des Ordo virtutum; das Gericht des Jüngsten Tages erscheint in einer großartigen Vision am Ende des Scivias; den Orten des Jenseits begegnen wir im Buch der Lebensverdienste, in dem die verschiedenen Strafen und die selige Pracht der himmlischen Stätte geschildert werden.
Die Vision betont immer wieder die freie Wahlmöglichkeit des Menschen zwischen Gut und Böse. Aber auch die Konsequenzen der daraus folgenden Entscheidung werden nicht geleugnet. Dennoch wird die Barmherzigkeit Gottes all das übersteigen, was die menschliche Gebrechlichkeit verschuldet hat:
„Die selige und unaussprechliche Dreieinigkeit hat sich der Welt geoffenbart, als der Vater seinen Eingeborenen, der vom Heiligen Geiste empfangen und aus der Jungfrau geboren wurde, in die Welt sandte, damit die Menschen, die mit den verschiedensten Eigenarten geboren werden und von vieler Schuld umstrickt sind, durch ihn zum Weg der Wahrheit zurückgeführt werden. Von den Banden der Körperlast befreit, tragen sie ihre guten und heiligen Werke mit sich und empfangen die Freuden des himmlischen Erbes“ (Scivias I.4.8.).

Sr. Maura Zátonyi OSB