“Scivias”-Kodex: Tafel 9: Die Chöre der Engel

„Alle diese Reihen tönten in jeglicher Art von Musik
und kündeten in wundersamen Harmonien die Wunder,
die Gott in heiligen Seelen wirkt
– ein Hochgesang der Verherrlichung Gottes“
(Scivias I.6.)
Die minuziöse Ausarbeitung aller Details und die sorgfältige Kunstfertigkeit des Künstlers faszinieren jeden Betrachter dieser Miniatur. Bei genauem Hinschauen erkennt man, dass hier neun Engelchöre dargestellt werden.

Die Vorstellung von den Engelchören reicht zurück in die biblische, liturgische und patristische Tradition. Hildegard wird diese Lehren gekannt haben durch ihre monastische Bildung, was aber die Originalität ihrer Vision nicht einschränkt. Die neun Engelchöre werden nämlich bei ihr auf eigenartige Weise gegliedert: statt dreimal drei bilden die ersten zwei, dann die folgenden fünf und schließlich die letzten beiden Chöre eine zusammen-gehörende Einheit. Hinter diesen Zahlen stehen geistliche Deutungen: Die ersten beiden Reihen weisen darauf hin, dass „Leib und Seele des Menschen Gott dienen müssen“ (Scivias I.6.1.). Sie schließen sich um fünf andere Reihen, wobei die Zahl fünf die fünf Sinne des Menschen bedeutet, die durch die fünf Wunden Jesu Christi gereinigt sind (vgl. Scivias I.6.3.). Die innersten Engelchöre sind zwei an der Zahl, weil sie die zweifache Liebe, zu Gott und zu dem Nächsten, darstellen.

Die allgemeine Berufung der Engelwesen gilt zum Heil der Menschen und zur Ehre Gottes, ihr heilsgeschichtlicher Dienst wird aber weiter differenziert. Davon gibt uns diese Vision Auskunft, indem sie uns die einzelnen Chöre vorstellt.

Erster Chor: Die Engel (Scivias I.6.2.) – Sie „sind an der Brust beflügelt und haben Antlitze wie Menschen, in denen wie in einem ungetrübten Wasserspiegel Menschengesichter erscheinen.“ Die Engel sind von dem Verlangen, Gottes Willen zu tun, beflügelt und ihr Antlitz deutet auf die Schönheit der Rationalitas, der Vernunft, hin, die Gott Engeln und Menschen geschenkt hat. Die Engel achten darauf, dass der Wille Gottes auch in den Menschen erfüllt wird.

Zweiter Chor: Die Erzengel (Scivias I.6.3.) – Sie „haben ebenfalls Flügel an der Brust und Gesichter wie Menschen. In ihnen leuchtet wie in einem Spiegel das Bild des Menschensohnes auf.“ Die Erzengel stehen im Dienst der Menschwerdung, indem sie ihren Geheimnissen auf vielerlei Weise zuvorgekommen sind.

Dritter Chor: Die Kräfte (Scivias I.6.4.) – Sie „haben Antlitze wie Menschen, und von der Schulter an abwärts erstrahlen sie in hellem Glanz.“ Der Mensch steht inmitten des Kampfes zwischen Gut und Böse. Die „Kräfte“ helfen dem Menschen bei diesem Kampf und zeigen Gott, dem Schöpfer, alle die Schlachten, die die Menschen gegen den Teufel aushalten.

Vierter Chor: Die Mächte (Scivias I.6.5.) – Sie „stehen da in lichter Klarheit.“ Sie stellen die Heiterkeit und die Schönheit der Macht Gottes dar.

Fünfter Chor: Die Fürstentümer (Scivias I.6.6.) – „Sie haben Häupter wie Menschen, und über ihnen lodern Feuerflammen. Eine eisenfarbige Wolke umhüllt von der Schulter an abwärts ihre Gestalt. Sie sind die Urbilder derer, die aus Gottes Gabe in der Welt über die Menschen herrschen.“

Sechster Chor: Die Herrschaften (Scivias I.6.7.) – Sie „haben Antlitze wie Menschenantlitze und Füße wie Menschenfüße. Auf ihrem Haupte tragen sie einen Helm und sind mit marmorgleichen Tuniken bekleidet.“ Sie zeigen, dass Gott die Rationalitas, die Vernunft des Menschen, die durch die Ursünde gefallen war, wieder erhob, und zwar durch seinen menschgewordenen Sohn.

Siebter Chor: Die Throne (Scivias I.6.8.) – Sie “haben gar nichts Menschliches, sondern erglühen wie das Morgenrot.“ Sie versinnbildlichen auch das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, in der sich die Gottheit zur Menschheit neigte.

Achter Chor: Die Cherubim (Scivias I.6.9.) – Sie sind „voller Augen und Flügel. In jedem Auge erscheint ein Spiegel und darin ein Menschengesicht.“ Die Cherubim, die mit den Seraphin die innersten Reihen bilden, stehen in unmittelbarer Nähe Gottes. Sie sinnbilden das Wissen Gottes, das nach biblischem Verständnis liebende Erkenntnis bedeutet. In dieser Erkenntnis schauen sie die Mysterien himmlischer Geheimnisse und zugleich die Menschen, in denen auch diese Erkenntnis glühen und die sich nach dem Himmel sehnen.

Neunter Chor : Die Seraphim (Scivias I.6.10.) – Sie „brennen wie Feuer und haben sehr viele Flügel, und auf diesen erscheinen, wie in einen Spiegel eingezeichnet, die Sinnbilder aller Rangstufen der verschiedenen Stände in der Kirche.“ Die Erkenntnis der Cherubim ist gepaart mit der glühenden Liebe der Seraphim, die ebenso in Sehnsucht flammen und auf Gott schauen. In diesem innersten Kern der Gottesschau sind die weltlichen und geistlichen Amtsträger aufgehoben. Dieses Bild spricht alle Verantwortlichen an und erinnert sie an die gnadenvolle Würde ihrer Berufung.

Die Engelchöre „tönen in jeglicher Art von Musik und künden in wundersamen Harmonien die Wunder, die Gott in heiligen Seelen wirkt – ein Hochgesang der Verherrlichung Gottes“ (Scivias I.6.11.). Die konzentrischen Kreise verdichten sich um das große Mysterium Gottes, das die reinen Geister bereits schauen dürfen und nach dessen Schau die Menschen sich sehnen. Die Mitte der Miniatur, auf die sich der großartige Reigen der Engelwesen hin bewegt, ist weiß – Gottes Geheimnis ist verhüllt, denn „solange der Mensch sterblich ist, kann er das Ewige nicht vollkommen erkennen“ (Scivias I.6.10.).

Sr. Maura Zátonyi OSB