“Scivias”-Kodex: Tafel 21: Das Gebäude des Heils

Nachdem Gott in der vorangehenden Vision das Werk seiner Güte in Schöpfung und Heilsgeschichte offenbart hat, beschreibt er hier sein Heilswerk, das in den verschiedenen Etappen der Heilsgeschichte aus seiner Güte erwächst. Das Bauwerk erhebt sich aus dem Fundament des Glaubens an den dreifaltigen Gott. Gott und Mensch wirken im Heilsbauwerk zusammen. Die Vision gibt mit der Beschreibung der Grundmauern und Ecken des Bauwerkes einen grundrissartigen Überblick über das gesamte gott-menschliche Wirken.
In den folgenden 11 Visionen schaut Hildegard das ganze Heilswerk Gottes mit dem Menschen im Symbol einer burgartigen Anlage, eines gewaltigen Bauwerkes. Die Miniatur zeigt in einem Kreis ein Bauwerk mit verschiedenen Gebäudeteilen. Diese „Stadt auf dem Berg“ liegt dicht am Fuß des ungeheuren Felsens, auf dem über der Wolke der Thronsitz Gottes steht, wie es uns in der vorausgehenden Vision, Tafel 19, gezeigt wurde.
Die hl. Hildegard hatte innerhalb des Lichtkreises, der sich vom Thronenden ausbreitete, etwas wie einen großen Berg gesehen, dicht am Fuße des ungeheuren Felsens, über dem auf der Wolke der Thronende stand. Der Felsen, der ein Zeichen für die Furcht des Herrn ist, zeigt an, dass der Glaube mit der Furcht des Herrn als rechte Absicht ganz auf Gott ausgerichtet ist. Das Werk des Vaters steht kraftvoll wie ein Berg da, der den Glauben bezeichnet.
Auf dem Berg stand ein rechteckiges Gebäude, ähnlich einer rechtwinklig angelegten Stadt.
Das heißt: die Güte des Vaters errichtet über dem Glauben gute Werke. Er sammelt viele Gläubige von den vier Enden der Erde und zieht sie zum Himmlischen.
Die Ecken des Bauwerkes werden mit dem Erlösungswerk des Sohnes Gottes in Verbindung gebracht, mit seiner Geburt im Osten, seiner Sendung in die Welt im Westen, seinem Kampf gegen den Teufel im Norden und seinem Werk in der Kirche im Süden. Zugleich werden an den vier Eckpunkten die Epochen der Heilsgeschichte abgelesen, denen vier Grundsteine zugeordnet sind. Adam im Süden (1. Grundstein), Noach im Osten (2. Grundstein), Abraham und Mose in der Beschneidung und im Gesetz vereint im Norden (3. Grundstein), das Erlösungswerk im Westen und die Kirche im Süden, als vierter Grundstein die hl. Dreifaltigkeit.
Die Mauern des Bauwerkes sind von zweifacher Art, teils leuchtend wie das Tageslicht, teils wie aus Steinen gefügt. Die leuchtende Mauer steht für die spekulative Erkenntnis von Gut und Böse, die zuerst bei Noach auftrat. Der Mensch soll Leben und Tod zu erkennen suchen und dadurch imstande sein zu wählen. Die steinerne Mauer steht für das ganze Menschengeschlecht. Dass dieses Gebäude ein wenig schräg liegt, zeigt, dass der Mensch, der das Werk Gottes ist, nicht sündenlos einhergehen kann. Er muss gläubig im Sohn Gottes feststehen, der der Eckstein ist. Dieser thront als das fleischgewordene Wort mit dem Spruchband und in der Segensgeste in der roten Tunika in der Ostecke des Gebäudes.
Die verschiedenen Gebäudeteile in der Miniatur werden einzeln in den folgenden Visionen beschrieben: Der Turm des göttlichen Ratschlusses mit der Säule des Wortes Gottes über der leuchtenden Mauer bis zum Liebeseifer Gottes mit dem roten Haupt und den drei Flügeln. Es schließt sich die dreifache Mauer an. Die Säule der Dreifaltigkeit im Westen ist dem Menschensohn im Osten gegenüber angeordnet. Die Säule der Menschheit des Erlösers ist der Steinmauer aufgesetzt mit dem Turm der Kirche auf der Nordseite des Heilsbauwerkes. Die Lücken in der Mauer zeigen, dass das Heilsbauwerk noch unvollendet ist.
Gott lässt den Menschen durch das Zusammenwirken von Seele und Leib das gute Werk zur Erbauung der himmlischen Stadt vollbringen. Dieses Bauwerk des Heils zeigt, dass der Mensch Gott sehr teuer ist. Dem Menschen ziemt es als Antwort, den Schöpfer des Alls über alles in würdiger Weise als Gott zu verehren.

Sr. Hiltrud Gutjahr OSB