Hoffnungsgestalt der Kirche

Ein Wort der Hoffnung können wir uns niemals selbst zusprechen. Hoffnung muß ein anderer uns zusagen, einer, der es gut mit uns meint, einer, der die Grundmelodie unseres Herzens kennt und sie uns zuruft, wenn wir sie vergessen haben. Einem verzweifelten, orientierungslosen und suchenden Zeitgenossen rief Hildegard von Bingen vor 900 Jahren zu: „Schau auf zum Herrn, und die Welt wird neu!“
„Schau auf zum Herrn, und die Welt wird sich verändern, weil du sie mit neuen Augen siehst“ – das ist, meine ich, ein wahrhaft prophetisches Wort: zeitlos gültig und heute so aktuell wie damals. Ein Wort, das Richtung weist, auch uns. Vielleicht ist dieses Wort sogar der Schlüssel zu einer neuen Hoffnung. Denn ohne Hoffnung können wir nicht leben. Wo keine Hoffnung ist, da stirbt Leben, da öffnen sich keine Türen mehr, da bleibt alles verschlossen und versinkt in einem Sumpf von Resignation und Verzweiflung. Wir erleben solches heute, doch seien wir getrost: auch zur Zeit Hildegards waren solche Gefühle und Stimmungen keineswegs unbekannt.


Schau auf zum Herrn – das bedeutet: wende deinen Blick zu Gott hin, der dir das Leben geschenkt hat und aus dessen unendlicher Liebe allein uns Hoffnung zuströmt. Schau auf zum Herrn – das bedeutet aber auch: hör auf, nur dich selbst zu sehen und nur um dich zu kreisen. Richte dich auf und aus auf einen anderen hin, auf Christus, den Auferstandenen, in dem allein die Quelle unserer Hoffnung liegt und der Brunnen, aus dem wir immer neu schöpfen dürfen. Betrachte die Welt mit den liebenden, gütigen und barmherzigen Augen Gottes – und sie wird sich verändern, denn du selbst wirst dich verändern.

Wir wissen nicht, ob der hilfesuchende Briefschreiber Hildegards Rat befolgt und daraus neue Hoffnung geschöpft hat. Aber es ist uns bezeugt, daß unendlich viele Menschen zu Lebzeiten Hildegards, aber auch heute, 900 Jahre später, aus der Begegnung mit ihr neue Hoffnung geschöpft haben. So war und ist Hildegard wirklich eine Hoffnungsgestalt der Kirche.

Fragen wir uns, was das Geheimnnis dieser großen Frau ausmacht. Vielleicht liegt es vor allem darin, daß sie lebte, was sie lehrte – und umgekehrt auch lehrte, was sie lebte. So war sie glaubwürdig und überzeugend – eine wirkliche Zeugin des Glaubens und der Menschlichkeit. Nach solchen Zeugen suchen die Menschen. Das war vor 900 Jahren so und das ist auch heute so.

Folgen wir nun gemeinsam Hildegards Spuren auf dem Weg der Hoffnung. In sieben Schritten mögen wir dabei erahnen, was Hildegard meint, wenn sie das Ziel unseres Lebensweges mit dem biblischen Kernsatz umschreibt: „Ich will, daß sie das Leben haben, und es in Fülle haben“.

1) Eine „Feder im Windhauch Gottes“ – Hoffen auf den Geist

Hildegard liebte es, von sich selbst als einer „Feder im Windhauch Gottes“ zu sprechen. Federleicht wollte sie sein, ganz vom Geist Gottes getragen und geführt. Nicht zielloses Umherschweifen oder hilfloses Hin- und Hergeworfensein in den Wellen des Lebens ist hier gemeint, sondern Offenheit und Verfügbarkeit für den Willen Gottes, Aufmerksamkeit für den Anruf im Augenblick. Hildegard hat in ihrem Leben und Werk niemals sich selbst verkündet. Sie verstand sich als Werkzeug in den Händen Gottes, als „Posaune Gottes“ gar, als Prophetin, die die Wahrheit verkündet – ob gelegen oder ungelegen. Sie wollte Fenster sein – „fenestraliter“, das heißt wörtlich „fensterhaft“, durchlässig für das Licht der göttlichen Liebe, durchscheinend auf IHN hin und damit ein lebendiges, weithin sichtbares Zeichen der Hoffnung.

Dabei war sie sich ihrer Schwäche, ihrer Begrenztheit und Hilfsbedürftigkeit bewußt. Aber sie vertraute darauf, daß der Geist Gottes unserer Schwäche aufhilft, ja daß, wie es im Römerbrief an anderer Stelle heißt, die Kraft Gottes erst in der Schwachheit des Menschen wahrhaft zur Entfaltung kommt.

Hildegard verstand sich immer zuerst als Hörende. Das Hören wird aus dem Schweigen geboren, das Reden und Verkündigen dann im nächsten Schritt wiederum aus dem Hören. Hören gehört zu den Schlüsselbegriffen unseres benediktinischen Lebens. Und Hildegard war durch und durch Benediktinerin. Hören in vertikaler Richtung, also auf Gott hin, aber auch Hören in der horizontalen Dimension, im Aufeinander-Hören und Zu-einander-Gehören ist hier gemeint. Wirkliches Hören hat es immer mit Hoffnung zu tun, mit der Offenheit für neue Lebensmöglichkeiten, neue Herausforderungen und neue Perspektiven. Wie oft denken wir nur noch in vorgefaßten Schablonen, in Schubladen, die randvoll sind mit Vorurteilen, Ressentiments und Halbwahrheiten jeder Art. Wir nehmen uns selbst und auch den anderen damit jede Entwicklungsmöglichkeit, engen uns ein statt dem Geist Raum zu geben und IHN wehen zu lassen, wo er will.

Hildegard war in diesem Sinne ein wahrhaft geistbegabter Mensch – immer bereit, neu zu hören und neu anzufangen – und das Zeit ihres langen Lebens. Die Spannkraft des Hörens und der Hoffnung hat sie dabei jung erhalten bis ins hohe Alter hinein, denn sie wußte, daß der Mensch ein Werdender ist, ein Noch-nicht-endgültig-Angekommener, ein Homo Viator, ein Wanderer auf dem Weg zum Ziel.

2) Hoffnung als Weg zu Gott und zur Vollendung

In der achten Vision ihres Hauptwerkes „Scivias“ beschreibt Hildegard die Gestalt der Hoffnung mit folgenden Worten: „Aus der gläubigen Zuversicht auf Gott erhebt sich die Hoffnung zum Leben, das man auf Erden noch nicht besitzt; es ist vielmehr bis zur Zeit der ewigen Vergeltung im Himmel verborgen, und die Hoffnung trachtet danach mit ihrem ganzen Verlangen.“

Hildegard wußte, daß der Mensch bis in seinen innersten Kern hinein ein hoffendes Wesen ist. Schon in jedem Wunsch, den ich anderen zuspreche, mag er auch noch so klein und unbedeutend sein, klingt Hoffnung auf. Schon in unserer Alltagssprache blinken immer wieder Hoffnungslichter auf. Von einer Frau, die ein Kind erwartet, sagen wir, sie ist „guter Hoffnung“. Ja, wieviel Hoffnung erwächst uns aus dem werdenden Leben oder schaut uns aus weitgeöffneten Kinderaugen an.

Wir alle sind Hoffende. Wir hoffen auf das letzte, ewige Heil, darauf, daß wir das haben, worauf es eigentlich und wesenhaft ankommt. Letztlich geht es bei solcher Hoffnung um die unbeirrte Zuversicht, daß das Gelingen der menschlichen Existenz wider alle Alltagserfahrung eben doch möglich ist, aber im Wissen, daß solches endgültiges Gelingen noch aussteht. Hoffnung, das wußte Hildegard, und das wissen wir im Grunde auch, weist uns über unseren natürlichen Gesichtskreis hinaus. Denn in der Hoffnung drückt sich eine Sehnsucht aus, die alle unsere natürlichen Bedürfnisse übersteigt. Von Natur aus können wir das nicht machen. Solche existentielle Hoffnung, die keineswegs identisch ist mit unseren vielen großen und kleinen Hoffnungen des Alltags, ist Geschenk, für das wir uns nur öffnen können. Jeder Versuch, uns selbst zu erlösen, endet in Resignation und Verzweiflung – das hat Hildegard z.T. schmerzlich erfahren, und das erfahren wir heute vielleicht erschreckender denn je.

In der Tugend der Hoffnung – interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, daß Hildegard ganz in der Tradition der alten Mönchsväter die Traurigkeit im Sinne von Resignation als Laster betrachtet, das es mit aller Macht zu bekämpfen gilt – in der Tugend der Hoffnung also versteht und bejaht sich der Mensch darin, zu sein, was er wahrhaft ist: Kreatur, Geschöpf Gottes. Hildegard wird nicht müde, den Menschen dies in Erinnerung zu rufen. Unser Leben ist ganz und gar ungeschuldetes Geschenk Gottes. Aus Liebe sind wir geschaffen, sagt sie, und diese Liebe läßt uns vertrauensvoll geborgen sein in der Hand Gottes. Unsere unzerstörbare Herkunft von Gott her ist denn auch der Grund dafür, daß wir lebendige Hoffnung sind und daß wir Hoffnung haben dürfen. Sie läßt uns dankbar sein und dem Leben vertrauensvoll begegnen – im Wissen, daß Gott denen, die IHN lieben, alles zum Guten gereichen läßt.

Wer sich in Gott geborgen weiß, der kann seinen Weg gehen – so, wie Hildegard ihn gegangen ist: ohne Sorge, ohne Furcht vor den Menschen, vor weltlichen Mächten und Gewalten.Wäre es nicht ein geradezu revolu-tionäres Therapeutikum gegen die Angst unserer Zeit, solche Dankbarkeit, solches Vertrauen und solchen Glauben wieder neu zu lernen?

3) Hoffnung erwächst aus Erinnerung

Vertrauen und Hoffnung, das wissen wir sehr wohl, sind nicht beliebig herbeizitierbar, sind nicht markige Parolen starker Männer und Frauen oder gar oberflächlicher Optimismus.

Hoffnung gründet in Erinnerung, nicht im Argument. So wie uns die Erinnerung an vergangene Wunden davor bewahren kann, etwas zu wiederholen, das uns verwundete, so kann uns auch die Erinnerung an erfahrene Liebe, an glückliche Führungen und Fügungen in den Kämpfen des Alltags Kraft und Hoffnung geben. Die Erinnerung verbindet uns nicht nur mit unserer Vergangenheit, sondern erhält uns auch in der Gegenwart am Leben und öffnet uns Hoffnungswege in die Zukunft.

Wenn das Volk Israel z.B. Gottes Heilswirken als große Taten der Liebe und des Erbarmens in Erinnerung ruft, dann tritt es selbst in die Geschichte dieser Taten ein. Sich Erinnern bedeutet also in biblischer Tradition lebendige Teilhabe. Wenn alles finster erscheint, wenn wir von Stimmen der Verzweiflung umgeben sind, wenn wir keinen Ausweg mehr sehen, dann können wir Rettung in der Erinnerung an eine Erfahrung der Liebe finden, an eine Liebe, die nicht einfach nur etwas Vergangenes ist, sondern eine lebendige Kraft, die uns in der Gegenwart trägt. Durch die Erinnerung überschreitet Liebe die Grenzen der Zeit und gibt Hoffnung und Halt in jedem Augenblick unseres Lebens.

Das ist die Botschaft der Bibel, das ist aber auch die Botschaft, die Hildegard uns mit ihrem Leben bezeugt. Hildegard war, wie gesagt, Ordensfrau, Benediktinerin. Im Mittelpunkt ihres wie unseres Lebens standen und stehen das Gebet und die Feier der Liturgie. In beidem vergegenwärtigen wir uns immer neu die bleibende Nähe Gottes und die immerwährende Gegenwart des auferstandenen Christus. In Gebet, Anbetung und Liturgie, in Wort und Sakrament, erinnern wir uns an die Hoffnung, die uns bewegt, und an die Größe und die Großtaten Gottes. Das ist keineswegs nur etwas für „fromme Stunden“, sondern war für Hildegard das Zentrum ihres Lebens. Erst aus dieser Mitte heraus fand sie den Stand, von dem her sie wirken konnte.

Hoffnung weitergeben kann nur der, der selbst ein Hoffender ist – nicht nur mit dem Mund, sondern mit dem Herzen. Die stets neu gefeierte Erinnerung an die lebendige Gegenwart des Herrn in der Geschichte befähigte Hildegard dazu, andere zu führen und ihnen zu helfen, Gottes Gegenwart in ihrem Leben zu suchen und zu entdecken. Damit wurde sie zum Hoffnungsträger für viele, auch und gerade dann, wenn sie sich selbst als schwach und begrenzt erfuhr. Denn das ist wohl das Geheimnis, daß der Geist Gottes durch uns hindurchscheint und ans Werk geht, wenn wir nur – wie Christus selbst es uns vorgelebt hat – zuerst versuchen, in Gottes Gegenwart zu leben, und uns von dort aus den anderen zuwenden.

4) Ehrfurcht als Frucht der Hoffnung

Gebet und Meditation haben Hildegard zu einem frohen und dankbaren Menschen werden lassen. Dankbarkeit und Freude, Freude und Hoffnung gehören für mich eng zusammen. Hildegard hat uns dies immer wieder gezeigt und ermahnt uns, die Augen zu öffnen z.B. für die Schönheit der Schöpfung. Diese ist trotz allem, was der Mensch ihr antut (und wohl auch schon zu Hildegards Zeiten angetan hat), voller Hoffnung. In der Schöpfung – so lehrt Hildegard uns auf ihre so unverwechselbare Weise – ist ein schier unerschöpfliches Hoffnungspotential enthalten. Woher wissen wir denn, daß nach jedem Winter ein Frühling kommt, daß aus jedem Weizenkorn eine Ähre wächst? Bedeutet das nicht, daß in der Schöpfung per se immer schon Hoffnung am Werk ist? Wer Umgang mit der Schöpfung hat, der kann eigentlich nicht anders als ein Hoffender sein. Für Hildegard ist die Grünkraft, die „viriditas“, die sie so oft erwähnt, nichts anderes als die liebende Schöpferkraft Gottes, die alles durchwest, und die damit durch und durch Hoffnungskraft ist. Die Schöpfung ist ein einziges, großartiges Lesebuch und Lebensbuch der Hoffnung. Hildegard wußte das und hat daraus für sich selbst und für andere immer neue Hoffnung geschöpft. Sie lehrt uns aber auch, daß solche Hoffnungsspender gepflegt und gehütet werden müssen.

Aus der Dankbarkeit erwächst für sie deshalb zunächst vor allem die Ehrfurcht – vor Gott, aber eben auch vor allem Geschaffenen, vor der Natur und vor den Menschen. Die Ehrfurcht ist – ebenso wie das Hören – ein entscheidendes Grundelement benedik-tinischen Lebens. Der hl. Benedikt, nach dessen Lebensregel Hildegard lebte und nach der auch wir heute noch leben, legte einst seinen Mönchen und Nonnen ans Herz, „einander in Ehrfurcht zuvorzukommen“. Die Ehrfurcht, so können wir wohl sagen, ist eine heilige Scheu vor dem Großen im anderen. In ihr verzichten wir darauf, den anderen oder das andere in Besitz zu nehmen und für unsere bloßen Zwecke zu vereinnahmen. Die Ehrfurcht schenkt freien Raum zu hoffnungsvoller Entfaltung und läßt den und das andere in seiner Schönheit und Würde gedeihen. Der ehrfürchtige Mensch kann Größe anerkennen und auch das Große im Kleinen entdecken. Alles hat für ihn seinen Wert, weil auch im Unscheinbarsten die Größe Gottes aufleuchten kann.

Hildegard war ganz und gar durchdrungen von solcher Art zu sehen. Nicht umsonst kommt übrigens das Wort „Vision“ vom lateinischen Wort „videre“ – sehen. Sehen in biblischer Hinsicht bedeutet ja nicht zuerst äußeres Sehen und äußeres Wahrnehmen der Wirklichkeit. Sehen in der Heiligen Schrift bedeutet immer „liebendes Erkennen“, Einsicht in die Wesenheit der Dinge, die Gesamtschau der Zusammenhänge, ja letztlich die Erfahrung des unsagbaren Geheimnisses, das Gott selbst ist. In diesem Sinne ist solche Art des Sehens (ist auch die Vision Hilde-gards) bereits eine Vorform des jenseitigen Schauens, die beginnhafte Vorausgestalt dessen, worauf wir hoffen: nämlich auf die endgültige Anschauung Gottes. Gott selbst ist der Sehende schlechthin, aber er gibt uns, seinen Geschöpfen, Anteil an seiner Sicht der Dinge und der Welt.

Hildegard zeigt uns, daß solche Anteilnahme an der Schau Gottes jeder und jedem von uns offen steht. Freilich – und auch das sagt sie uns sehr deutlich – müssen wir dies auch wollen. Der Mensch hat die Freiheit sich zu entscheiden und kann sich deshalb, wie sie sagt, durch nichts entschuldigen. Hoffnung müssen wir wollen. Sie erwächst aus Glauben. Und der Glaube wiederum ist nicht erstlich eine Sache des Gefühls, sondern, wie Hildegard es so wunderbar klar formuliert, eine Sache der „brennenden Vernunft“. Hoffnung muß, ich wiederhole es, also auch gewollt sein. Künstlich erzeugen könen wir sie zwar nicht. Aber wir können unsere Herzen und unsere Augen offen halten für die Hoffnungszeichen dieser Welt. Halten wir also Ausschau nach den Zeichen, in denen Gott uns seine Gegenwart erfahrbar macht und lassen wir uns anstecken von dem, was andere in unserer Nähe an Herrlichkeiten entdecken.

5) Hoffnung drängt zur Tat

Ein fünfter Punkt: wenn wir Hildegard als Hoffnungsgestalt betrachten, dann dürfen wir nicht vergessen, daß die Schau, die Kontemplation bei Hildegard ganz im benediktinischen Geist eng verbunden war mit der Tat. Hoffnung ist kein Besitz, der ein für allemal gesichert ist und mit dem es sich ungestört leben läßt. Man hat der christlichen Hoffnung immer wieder vorgeworfen, sie sei so sehr auf die Vollendung der Welt und des Menschen ausgerichtet, daß nichts mehr übrigbliebe an Hoffnung für das Leben in dieser Welt. Hildegard hat bewiesen, daß gerade das Gegenteil wahr ist. Die Hoffnung, welche den Zielen Gottes und damit der absoluten Zukunft gilt, muß auch der Ursprung und Quell für die Schwungkraft unseres hiesigen Strebens sein. Unser Handeln in dieser Welt steht in engstem Zusammenhang mit dem Reich Gottes der Endzeit – ja, wir können sogar, wie es im Zweiten Petrusbrief heißt – die Ankunft des Reiches Gottes beschleunigen.

Hildegard war in diesem Sinne eine leidenschaftlich engagierte Frau. Sie wartete nicht in stiller Ergebenheit und Untätigkeit darauf bis Gott sozusagen mit einem Schlag alles zur Vollendung führt, sondern sie zeigte Einsatz, Kraft und Mut zum Wagnis. Sie verstand sich nicht nur als Geschöpf Gottes, als „Opus“, sondern auch als „Operarius“, als Mitschöpfer Gottes. In diesem Sinne tat sie alles, um dem Guten in der Welt zum Sieg zu verhelfen. Der Mensch, so sagt sie, hat einen Auftrag in der Welt und trägt Verantwortung für sich und für die gesamte Schöpfung. Und das gilt für alle, nicht nur für die Großen und Mächtigen. Wir alle sind verantwortlich, daß es Hoffnung gibt für viele, die sonst verzweifeln. Kein noch so kleines Bemühen ist dabei umsonst. Nichts geht verloren oder ist unwichtig. Jedes gute und heilsame Wort, jede gute und aufbauende Tat, jedes Salböl der Barmherzigkeit und Liebe hat Auswirkungen auf das Ganze und läßt das Angesicht der Erde wieder ein Stück menschlicher erscheinen.

Hildegard betont immer wieder diese einmalige Wechsel-beziehung von Mikro- und Makrokosmos. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke, eine befreiende Hoffnung wider alle beklemmenden Gefühle der Ohnmacht und des Ausge-liefertseins an anonyme Mächte? Wir können die Welt verändern. Und die Welt – so schreibt einmal Teilhard de Chardin, der Hildegard wohl mehr als seelenverwandt war – „die Welt wird dem gehören, der ihr die größte Hoffnung anzubieten hat“. Gibt es aber eine Hoffnung, die tiefer reicht und vor allem besser begründet ist als die, die uns von Gott her verheißen ist? „Auf Hoffnung hin sind wir erlöst“, sagt der Apostel Paulus. Ja, wir sind bereits erlöst, warten aber zugleich voll Sehnsucht auf die endgültige Erlösung und Vollendung. Dieser Erlösung sollten wir uns – wie die hl. Hildegard – würdig erweisen – in Wort und Tat, im Zeugnis eines gelebten Glaubens.

6) Hoffnung führt zusammen

Erlösung kann niemand für sich allein haben. Und auch Hoffnung ist keine Privatsache einzelner. Zur Hoffnung sind wir alle gemeinsam berufen, jede und jeder für sich, aber eben auch für den anderen. Ich möchte hier noch einmal wiederholen, was ich eingangs sagte: Hoffnung können wir uns nicht selbst zusprechen, sie muß uns von anderen zugesagt werden. Daß und ob jemand hoffen kann, hängt zutiefst auch von der Art und Weise ab, wie ich mit ihm umgehe. Wir Menschen sind füreinander Hoffnungsträger, im natürlichen, erst recht aber im übernatürlichen Sinne. Einander anschauen mit den Augen der Hoffnung, mit den Augen der Zukunft, mit den Augen der Offenheit, mit den Augen der Liebe – das schafft Hoffnung.

Und dann erst recht einander ein Wort oder Worte der Hoffnung schenken. Jeder Versuch des Verstehens, jede Geduld, alles wirkliche Zuhören, ja auch jedes Zeichen der Zärtlichkeit ist ein Geschenk der Hoffnung. Ein gutes Wort, so sagt es uns der hl. Benedikt – geht über die beste Gabe.

Hildegard war eine Frau, die unzähligen Menschen zuhörte und ein Wort der Hoffnung zusprach. Sie wußte aber auch, daß sie selbst immer wieder auf ein solches Wort angewiesen war, auf Menschen, die sie aufrichteten, wenn sie selbst müde, mutlos oder krank geworden war. Deshalb hat sie Zeit ihres Lebens die Nähe zu Gott, aber auch die Nähe zu den Menschen gesucht, hat echte Freundschaften gepflegt, hat Gemeinschaft gestiftet und geformt. Darin fand sie selbst die Kraft zur Freude und zur Hoffnung und die Kraft, das ihr Geschenkte weiterzugeben.

Ein beredtes Zeugnis dafür sind die über 300 Briefe, die uns von ihr überliefert sind. Diese Briefe sind voller Leben und spiegeln alle Facetten unseres irdischen Seins wider. Sie sind durchtönt von unerschütterlicher Glaubensgewißheit, von einer unbändigen Liebe und von starkmütiger Hoffnung. Vielleicht sind es gerade diese drei christlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe -, die diese Briefe auch heute vielen Menschen wieder so wertvoll erscheinen lassen. Hildegards Worte lassen aufhorchen und führen immer wieder Menschen auf neue, sinnerfüllte Lebenswege.

Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Hildegards Zeugnis der Hoffnung führt auch nach 900 Jahren Menschen wieder und neu zusammen. In unserer Abtei erfahren wir es zur Zeit jeden Tag, wenn Menschen aller Altersgruppen, vieler Nationen, verschiedener Herkunft und Weltanschauung in freudiger Erwartung zu uns kommen. Für mich grenzt das fast schon an ein Wunder, für das wir nur danken können. Denn viele dieser Menschen haben sich auf den Weg gemacht, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben – auf Hoffnung hin.

Romano Guardini, der große Theologe unseres Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Solches Suchen bedeutet, daß schon ein Finden geschehen ist, deshalb, weil es bereits der lebendige Gott ist, der jenes Suchen und Sehnen bewirkt und darin die Menschen an sich zieht.“ Das ist für mich ein tröstlicher Gedanke, der uns in gewisser Weise entlastet. Denn was uns dabei noch zufällt, ist dann „nur noch“ dieselbe Aufgabe, der auch Hildegard sich niemals entzog, und die im Ersten Petrusbrief so ausgedrückt ist:“Haltet den Herrn Jesus Christus heilig in euren Herzen, und seid allezeit bereit, jedem gegenüber Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in euch lebt.“ (1 Petr 3,15)

7) Hoffnung wider alle Hoffnung

Ein letzter Gedanke: Ausgesprochen, noch häufiger unausgesprochen begegnet uns beim Thema Hoffnung die Frage nach dem Tod. Durch den Glauben an die Auferstehung und die Hoffnung auf Vollendung ist die Tragik dieser Welt ja nicht aufgehoben. Aber es ist ihr ein Ende gesetzt. Der Tod, so meine ich, ist geradezu das Sprungbrett zur absoluten Hoffnung hin. Aus dem Tod, aus jedem Tod, erwächst neues Leben: „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bringt es keine Frucht“. Das gilt auch für die vielen kleinen Tode, die wir in unserem irdischen Leben Tag für Tag sterben müssen: Enttäuschungen, Verzichte, Zurücksetzungen, Kränkungen – die Liste ließe sich mühelos fortsetzen.

Hildegard war ein Mensch, der diese kleinen Tode bewußt auf sich nahm und ihnen einen Sinn zu geben vermochte. Noch kurz vor Ende ihres Lebens mußten sie und ihre Gemeinschaft großes Unrecht ertragen. Sie taten es ohne zu jammern und zu klagen – ganz im Vertrauen darauf, daß die Gerechtigkeit am Ende siegen werde. Hildegard lehrt uns damit, daß Zweifel, ja sogar Verzweiflung, kein Gegensatz zur Hoffnung sein müssen, ja daß Zweifel und Verzweiflung sogar erst den Raum für neue Hoffnung schaffen können.

In der Benediktusregel, die für Hildegard wie für uns heutige Benediktinerinnen gleichermaßen Lebensquell und Lebensweisung ist, gibt es drei Stellen, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig erscheinen. Der Mönch, so heißt es dort zum einen, soll den Tod täglich vor Augen haben. Ein solches Tun übt uns in der Hoffnung, im Loslassen und in der Dankbarkeit. Hildegard wußte das und hat ganz bewußt danach gelebt.

An anderer Stelle werden wir aufgefordert, „niemals an Gottes Barmherzigkeit zu verzweifeln“ und unsere Hoffnung ganz auf Ihn zu setzen. Hier geht es nicht um Zweifel und zeitweise Verzweiflung, die durchaus ihren Platz in unserem Leben haben dürfen und sollen, sondern hier geht es um die Grundmelodie unseres Herzens, die sozusagen unter der Oberfläche voll Sehnsucht wartet auf das endgültige Gelingen und die Vollendung unseres Lebens. Hildegard hat dieses Wort des hl. Benedikt besonders geliebt und die Barmherzigkeit immer wieder als das Heilmittel der Hoffnung und Mittel zum Heil schlechthin gepriesen.

Ein Letztes: der Profeßgesang, der uns Benediktinerinnen unser Leben lang begleitet und den auch Hildegard schon gesungen hat: „Nimm mich auf, o Herr, gemäß deiner Verheißung, und ich werde leben. Und laß mich in meiner Hoffnung nicht zuschanden werden.“ Ein Vers aus Psalm 119, ein einmalig dichtes Gebet der Sehnsucht, der Erwartung und der Gewißheit. Keine Hoffnung bleibt unerhört, der Hoffende wird am Ende nicht enttäuscht werden.

In der Sterbestunde jedes Mönches und jeder Nonne wird dieser Profeßgesang seit alters her ein letztes Mal gesungen. Als Hildegard am 17. September 1179 starb, soll dabei ein hellstrahlendes Licht am Himmel zu sehen gewesen sein. So dürfen wir wohl gewiß sein, daß Hildegard, die so vielen Zeugin der Hoffnung war und ist, am Ende den schauen durfte, auf den sie ihr Leben lang gehofft hat.

„Schaut auf zum Herrn und hofft auf IHN, dann wird die Erde neu“. Hildegard hat dies nicht nur gesagt, sondern gelebt. Folgen wir ihrem Beispiel – heute und alle Tage.

Von Sr. Philippa Rath OSB