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Von der geistlichen Kraft der Erinnerung

Das Wort „Erinnern“, „Erinnerung“ kommt vom „Inneren“, d.h. es hat zutiefst mit uns selbst zu tun. Erinnerungen sind ein Teil unserer selbst, gehören zu unserem Inneren und bringen sich in Er-Innerung. Unser Gedächtnis ist dabei so etwas wie ein lebendiger Speicher – wie er genau funktioniert, das weiß die Wissenschaft bis heute kaum. Durch Anstöße, seien es Bilder, Worte oder bestimmte Reize, kann der Speicher, der vielfach auf unbewusste Weise wirkt, aktiviert werden. Aus dem Dunkel des Vergessens tauchen dann mit einem Male Dinge wieder auf, die scheinbar vergessen waren, und können manchmal erschreckend aktuell werden. Unser Erinnerungsvermögen bereitet uns manche, durchaus auch nicht immer liebe Überraschung. Einerseits klagen wir über Vergesslichkeit, andererseits wundern wir uns nur allzu oft, was aus den Tiefen der Seele aufsteigen und uns erfreuen, aber auch beunruhigen und ängstigen kann. Ein interessanter Aspekt scheint mir in diesem Zusammenhang, dass unser Erinnerungsvermögen nicht nur durch das kognitive Denken, sondern auch und vor allem durch unsere fünf Sinne aktiviert werden kann. Unsere Sinne sind sozusagen Gedächtnisträger. Wir sehen ein bestimmtes Bild, ein Gesicht, eine Landschaft – und erinnern uns. Wir hören einen bestimmten Ton, eine Melodie, ein Lied – und erinnern uns. Wir nehmen einen bestimmten Geruch oder Duft wahr – und erinnern uns. Wir erfühlen oder ertasten eine bestimmte Oberfläche, einen Stoff, eine Form – und erinnern uns. Wir schmecken einen bestimmten Geschmack, eine Nuance in einem Gericht oder einem Getränk – und erinnern uns. Was ist das, was sich da in unserem Herzen, in unserem Gemüt, in unserer Seele abspielt? Scheinbar längst Vergessenes kommt mit einem mal wieder an die Oberfläche, und wir erinnern uns unserer Gefühle und Empfindungen von damals – allerdings und das scheint mir wichtig zu sein, ohne sie jetzt, hier und heute direkt und hautnah zu fühlen. Wir können die Empfindungen von damals nur „nach-empfinden“, sie wieder in unserem Inneren erspüren, uns ihrer er-innern. In der zeitlichen Entfernung ordnen und bewerten wir sie und damit bekommen sie eine neue Bedeutung.

Erinnerungen sind also ambivalent, doppelbödig. Sie prägen unser Unbewusstes und unser Bewusstsein, aber auch unser aktuelles Sein und Tun. Sie sind weit mehr als ein bloßes Zurück-Denken, ein Denken an Vergangenes. Sie sind gleichzeitig ein Auferstehen-lassen und Gegenwärtig-setzen und können so auch unser Leben und Sein im Hier und Heute neu prägen. Insofern dürfen wir durchaus sagen: ich bin mein Gedächtnis. Die Erinnerung stiftet meine Identität, sie lässt mich zu dem werden, der ich bin. Das gilt für den einzelnen ebenso wie für Familien und Gemeinschaften, für Völker und Kulturen, für Epochen und Generationen.

Wenn wir Jubiläum feiern und des 100. Jahrestages der Wiederbegründung unserer Abtei gedenken, dann kommt uns dieser Gedanke ganz nah. Wir stehen auf den Schultern der Mitschwestern, die einst aus St. Gabriel in Prag hierher kamen. Sie haben den Grund gelegt, haben uns das hinterlassen und anvertraut, was ihnen in diesem Leben wichtig und wertvoll war. Wenn wir uns heute dessen erinnern – im persönlichen Gedächtnis unserer alten Mitschwestern, in Bildern und Symbolen, die einzelnen und uns allen gegenwärtig sind, in Formen, Gebräuchen und auch in Festen – dann stiftet dies zu einem großen Teil auch die Identität unserer Gemeinschaft. Es wird uns bewusst, dass wir ein Teil in einer langen, schier endlosen Kette sind. Jedes Glied ist dabei gleichermaßen von Bedeutung, denn wenn eines fehlt, dann reißt die Kette und die anderen Glieder versinken im Nichts.

In der Erinnerung wird also deutlich, dass wir geschichtliche Wesen sind. Wir leben nicht nur aus uns selbst, sondern ein großes Stück weit von dem und aus dem, was vor uns war. Viele große Denker haben zu allen Zeiten darauf hingewiesen, dass wir Menschen, dass eine Kultur sich ihrer Wurzeln beraubt, wenn sie ihre Traditionen und ihre Geschichte vergisst, dass der einzelne seine seelische Gesundheit aufs Spiel setzt, wenn er seine Lebensgeschichte hinter sich abschneidet und dass eine Religion zur Ideologie entartet, wenn sie sich ihres Ursprungs nicht mehr erinnert.

Eines der ganz großen Zeitzeugnisse für eine Kultur des Erinnerns war die Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985 – viele werden sich daran erinnern. Hier sei eine etwas längere Passage aus dieser Rede zitiert:

„Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit … Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung. Gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung nicht geben kann… Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben. ‚Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung’. Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, dass der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist. Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergisst, verliert den Glauben.“

Die Erinnerung gehört, wie Richard von Weizsäcker mit recht betont, untrennbar zum jüdischen wie auch zu unserem christlichen Glauben. Wenn Jesus Christus uns auffordert: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19), dann ist dies mehr als eine bloße Aufforderung zur Erinnerung. Es ist eine Erinnerung, die real und gegenwärtig ist in der Präsenz dessen, der sich uns als Gabe geschenkt hat und der uns sendet, aus dieser Erinnerung heraus unser Leben und unsere Welt zu gestalten. Insofern gibt es kein christliches Leben ohne Erinnerung, ohne die Verpflichtung, das Vergangene in unsere Gegenwart hineinzuholen und uns von ihm verwandeln zu lassen.

Das Altes Testament – das große Buch der Erinnerung

Die Heilige Schrift ist das große Erinnerungsbuch schlechthin – wir könnten sie bezeichnen als das große Epos des Zueinander und Miteinander von Gott und Mensch. Wie wir wissen, erzählt die Bibel nicht nur die Geschichte Gottes mit den Menschen – von der Erschaffung des Menschen bis zu seiner Erlösung am Ende der Zeiten – , sondern sie deutet diese Geschichte auch und aktualisiert sie je neu, so dass sie zur Gegenwart wird für jeden und zu allen Zeiten. Gott offenbart sich den Menschen. Und er erinnert uns – gegen unsere Gleichgültigkeit, unsere Vergesslichkeit und unsere manchmal allzu schnelle Verdrängung. Schon im Alten Testament war es das Volk Israel, das seinen Gott immer wieder vergessen hat und selbstgemachten Göttern nachgelaufen ist. So klagt Gott durch den Mund des Propheten Jeremia:“ Mein Volk hat mich vergessen; nichtigen Götzen bringt es Opfer dar“ (Jer 18,15). „Euren Ernährer, den ewigen Gott, habt ihr vergessen“ (Bar 4,8), ruft der Prophet Baruch. „Sie vergaßen den Herrn, ihren Gott, und dienten den Baalen und den Kultpfählen“, heißt es im Buch der Richter (Ri 3,7). Die Prophetenbücher sind voll von solchen Anklagen wider das treulose und undankbare Volk Israel. Auch die Psalmen geißeln die Gottvergessenheit des Menschen an vielen Stellen. „Vergessen hatten sie seine Werke und seine Wunder, die er sie schauen ließ“ (Ps 78,11) oder: „Gott vergaßen sie, der sie errettet, der Großes gewirkt hat in Ägypten“ (Ps 106,21).

Umgekehrt aber gilt: Gott vergisst den Menschen nie, auch dann nicht, wenn er sich von ihm abwendet und andere Wege geht. So spricht Gott selbst durch den Propheten Jesaia: „Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht“ (Jes 44,21). Oder weiter in Jes 49,14: “Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht!“

Gott erinnert sich der Menschen, aber auch wir sollen uns an Ihn und an sein Gesetz erinnern:“ Erinnert euch an das, was Mose, der Knecht des Herrn, euch geboten hat“ (Jos 1,13) – an die Zehn Gebote nämlich, an das Gesetz, das der Herr selbst uns gegeben hat, damit wir das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10). In der Erinnerung also liegt die wahre Weisheit, wie es auch im Buch der Sprichwörter heißt:“ Mein Sohn, vergiss meine Lehre nicht, bewahre meine Gebote in deinem Herzen!“ (Spr 3,1). „Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Einsicht, vergiss sie nicht, weich nicht ab von meinen Worten!“(Spr 4,5). Oder, wie es im Buch Deuteronomium heißt: „Vergesst nicht den Bund, den der Herr, euer Gott, mit euch geschlossen hat“ (Dtn 4,23).

Wir sehen: wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte Israels das Gott-Vergessen, die verweigerte Erinnerung der Menschen und andererseits das Nicht-Vergessen Gottes, seine unverbrüchliche Treue zu seinem Volk. Scheinbar paradox erscheint es da, dass es auch Situationen gibt, in der der Mensch glaubt, Gott an seinen Treuebund erinnern zu müssen. Verbirgt sich Gott einmal, dann schreit das Volk sofort auf: „Verlaß uns nicht, Herr, unser Gott!“ (Jer 14,9) oder: „Warum willst du uns für immer vergessen, uns verlassen für’s ganze Leben?“, so ein Ausruf aus den Klageliedern (Klgl 5,20). Auch in den Psalmen schreit der Beter buchstäblich zu Gott: “Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz?“ (Ps 13,2) Die Erinnerung soll hier über eine Notsituation hinweghelfen, soll Trost spenden im Gefühl der Verlassenheit. Im Grunde seines Herzens weiß der Beter, dass Gott da ist, aber er will sich vergewissern, will seine Nähe und seine rettende Hand spüren. Vielleicht will er sich durch diese Erinnerung Gottes auch selbst Mut zusprechen, um den eigenen Kleinglauben zu besiegen. Wir wissen es nicht. Das gegenseitig Erinnern jedenfalls zeigt uns, wie sehr auch hier das Geschehen zwischen Gott und Mensch ein dialogisches Geschehen ist, eine personale Beziehung und Bindung.

Im Gegensatz zum Menschen, der seine Not einfach herausschreit und sich so selbst in Erinnerung bringt, zeigt sich Gott als einfühlsamer Pädagoge, der weiß, dass wir oft schwerfällig sind und Hilfestellung brauchen, um nicht zu vergessen. Deshalb berichtet das Buch Josua von steinernen Erinnerungszeichen: „So sind diese Steine ein ewiges Erinnerungszeichen für die Israeliten“ (Jos 4,7). So werden Altäre gebaut, Orte der Erinnerung und der Vergegenwärtigung von Gottes großen Heilstaten. Diese Ver-Ortung der Erinnerung ist für das Volk Israel und auch für uns von ganz entscheidender Bedeutung. Es ist faszinierend, sich einmal zu vergegenwärtigen, an wie vielen Stellen im Alten Testament das Bauen eines Altares beschrieben wird. Unzählige solcher steinerner Erinnerungszeichen werden dort errichtet – und wir könnten uns fragen, was wir heute tun, um die Erinnerung wachzuhalten.

Ähnliches gilt für die Feste des Volkes Israel. Das Pascha-Fest und das Fest der ungesäuerten Brote werden gefeiert, um des Auszugs aus dem Sklavenhaus Ägyptens zu gedenken; das Laubhüttenfest, um sich im Erntedank stets der Heilssorge Gottes zu erinnern. Erinnerungen müssen gefeiert werden. Nur so bleiben sie lebendig und gegenwärtig.

Die Feier der Erinnerung – die Memoria

Auch das Neue Testament ist ein Buch der Erinnerung, doch kommt hier für uns ein ganz entscheidender Aspekt hinzu: die Memoria (lat. für Gedächtnis), die Vergegenwärtigung dessen, was Gott in Jesus Christus an uns getan hat. Die Memoria ist ein Schlüsselbegriff beim hl. Kirchenvater Augustinus. Im X. Buch seiner „Bekenntnisse“ widmet er die Kapitel 8 – 27 ganz diesem Thema. Für Augustinus bedeutet Erinnerung viel mehr als für uns heute. Die Memoria bezeichnet nicht nur ein Bewahren von Ideen, sondern auch von affektiven Eindrücken. Sie ist nicht nur Erinnerung an Vergangenes, sondern an alles, was der Seele gegenwärtig ist, ob bewusst oder unbewusst. Zu diesem in der Seele Gegenwärtigen gehört für Augustinus auch die metaphysische Gegenwart einer transzendenten Wirklichkeit. Damit ist die Memoria nicht nur das Erinnerungsorgan des Geistes, sondern wird selbst zum Ort der Seele, an dem der Mensch sich seines Ursprungs und seiner Lebensquelle erinnert und Gott begegnet. Sie ist also letztlich das innerste Selbst des Menschen überhaupt, das auf den Überstieg in seinen jenseitigen Grund und darüber hinaus auf die je aktuelle Gegenwart dieses jenseitigen Grundes hin ausgerichtet ist. Nur vor diesem Hintergrund kann der hl. Augustinus dann auch sein berühmt gewordenes Wort sprechen: “Ich fand dich nicht draußen, Herr, weil mein Suchen dort fehlging; warest du doch in meinem Inneren.“ Das hat nichts mit Selbstfindung im Sinne von Selbstbespiegelung zu tun, wie heute vielfach missdeutet, sondern ist Selbstfindung in der Begegnung mit dem von Ewigkeit her in uns wohnenden Gott.

Wenn wir das Pascha-Mysterium der hl. Eucharistie wirklich verstehen wollen, dann müssen wir die Memoria wie sie uns der hl. Augustinus gedeutet hat, vor Augen haben. Wenn unser Herr beim letzten Abendmahl seinen Jüngern und damit auch uns sagt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, dann geht es hier um viel mehr als um das bloße Erinnern. Das Gedenken und das Feiern des Gedächtnisses überbrückt den zeitlichen Abstand zwischen dem Geschehen damals und dem Hier und Jetzt. Das Vergangene wird lebendige Gegenwart, die uns mit einbezieht und jetzt für uns wirksam werden will. Die Eucharistie ist Zeichen der Gegenwart und des Wirkens Gottes durch Jesus Christus einst, heute und in Zukunft und zugleich lebendiger Ausdruck der Einheit aller Christen zu allen Zeiten und in aller Welt.

Neben der Feier der Eucharistie als der Memoria Dei und der Memoria Christi schlechthin sind das Gebet und der Gesang der Gemeinde besondere Formen des Erinnerns und Gedenkens. Das Gedächtnis der Wundertaten Gottes, der Magnalia Dei, findet dabei in der Kirche seinen vorzüglichen Ausdruck im Psalmengebet. In den Psalmen, wer wüsste das besser als wir, die wir sie täglich beten, ist die ganze Spannbreite menschlicher und christlicher Existenz entfaltet. Wie kaum ein anderes Gebet sind sie deshalb dazu prädestiniert, uns an das Heilshandeln Gottes an den Menschen zu erinnern. Zwei andere vorzügliche Erinnerungsgebete möchte ich in diesem Zusammen-hang noch erwähnen: das Benedictus, den Lobgesang des Zacharias, und das Magnificat, den Lobgesang Mariens. Beide preisen die Grosstaten Gottes und nehmen uns mit hinein in seine gewaltige Geschichte Gottes mit uns Menschen. Der große Gott kommt uns in dieser Erinnerung ganz nahe, so wie uns auch Jesus Christus ganz nahe kommt, wenn wir uns seiner in der geistlichen Schriftlesung erinnern.

Nicht vergessen dürfen wir schließlich auch den Festkreis des Kirchenjahres, der uns auf wunderbare Weise das Heilsmysterium Christi vor unser inneres Auge führt. Anknüpfend an die Bedeutung der Feste des alten Volkes Israel sind die Feste des Kirchenjahres lebendige Erinnerungszeichen. Sie bewahren uns davor, Gott im Alltag zu vergessen und geben Raum für die Feier von Lob, Dank, Bitte und Freude .

Lebendige Erinnerung sein – die Memoria in der Benediktusregel

In Marienrode stieß ich vor einigen Wochen auf eine Karte mit folgendem Wort von Bischof Josef Homeyer: “Klöster sind Orte, an denen das Geheimnis Gottes lebt. Deshalb sind Klöster Orte der Erinnerung und damit der Sendung.“ In diesen Worten ist eigentlich bereits kurz und bündig zusammengefasst, was der hl. Benedikt uns zum Thema Memoria zu sagen hat. Eine lebendige Erinnerung sollen wir sein. Mit unserer ganzen Existenz sollen wir bezeugen: Gott existiert, und zwar nicht nur in der Vergangenheit, sondern heute, hier und jetzt. In einer Zeit, in der der Himmel für viele verschlossen zu sein scheint, sollen wir ihn bewusst offen halten. Und zwar nicht durch ein frommes Tun neben anderem, sondern durch Einübung in die mönchische Lebensform, in das beständige Leben in Gottes Gegenwart. Dieses beständige Leben in der Gegenwart Gottes findet seinen wichtigsten Ausdruck im siebten Kapitel der Benediktusregel. Und zwar gleich in der ersten Stufe der Demut (RB 7,11), in der es heißt: „Er denkt stets an alle Gebote Gottes“ (et semper sit memor omnia quae praecepit Deus). Hier an dieser ganz zentralen Stelle finden wir folgerichtig auch die Memoria Dei. Sie ist die Grundlage für das Leben in Gottes Gegenwart – immer, zu jeder Zeit und an jedem Ort.

Das Wort Memoria selbst kommt in der Regel des hl. Benedikt kein einziges Mal vor, wohl aber die Worte memor, meminisse und meminere – und zwar an insgesamt zehn Stellen. Meist ist der Zusammenhang selbst eine Erinnerung. Der hl. Benedikt erinnert und ermahnt seine Mönche; er ruft sie auf, sich bestimmte Dinge stets vor Augen zu führen; dieser oder jener Sache eingedenk zu sein. Vor allem dem Abt schreibt er mehrere Ermahnungen ins Stammbuch, so in RB 2,1: „Der Abt muss immer bedenken, wie man ihn anredet“ (abbas … semper meminere debet quod dicitur). „Er denke immer daran, dass in gleicher Weise über seine Lehre wie über sein Leben Rechenschaft von ihm verlangt wird“ (memor semper abbas …RB 2,6). Auch der Cellerar wird zweimal deutlich an seine Verantwortung erinnert, so in RB 31,8, wo es heißt: “Er denke immer an das Wort des Apostels: wer seinen Dienst gut versieht, erlangt einen hohen Rang (memor semper illud apostolicum …) und weiter in RB 31,16: „Er bedenke, was nach Gottes Wort der verdient, der einen der Kleinen zum Zorn verleitet“(memor divini eloquii …).

Zur Erinnerung muss für den hl. Benedikt die Gabe der Unterscheidung hinzukommen. Der Abt „muss das göttliche Gesetz genau kennen, damit er das nötige Wissen hat, um daraus Neues und Altes hervorzuholen“ (RB 64,9). Der Mönch aber „soll nur das tun, wozu die gemeinsame Regel des Klosters und das Beispiel der Älteren mahnen“ (RB 7,55). Alle sollen sich also daran erinnern, was gut und wichtig und von der Tradition und der Überlieferung der bewährten Ordnung vorgezeichnet ist. Zu dieser bewährten Ordnung gehört auch die Ordnung des Tages und der Gebetszeiten, die Ordnung des Psalmengebets und die Ordnung des Com-memorierens, des Auswendiglernens der bibli-schen Texte und des beständigen Wiederholens bestimmter Gebete, Anrufungen etc. So wird das Leben selbst zur Erinnerung.

Ein weiterer Aspekt, der mir im Zusammenhang mit der Benediktsregel aufgegangen ist. Eingangs zitierte ich aus der Rede Richard von Weizsäckers u.a. den Satz: „Versöhnung ohne Erinnerung kann es nicht geben“. Der geforderte Umgang des Abtes mit den sich verfehlenden Brüdern (RB, Kap. 23-28) ist für mich eine ganz praktische Umsetzung dieser Aussage. Negatives wird nicht ausgeblendet oder schöngeredet. Nicht Verdrängung ist angesagt, sondern Erinnerung an die eigene Schuld und das eigene Versagen. Erst die Erinnerung ermöglicht das Zurücktragen des verlorenen Schafes, d.h. das Zurückbringen auf den rechten Weg. Insofern ist die Erinnerung für den hl. Benedikt untrennbar mit der Conversio und der Conversatio, der täglich neuen Umkehr verbunden. Dazu gehört auch eine so alltägliche Form der Erinnerung wie die abendliche „révision de vie“, die Gewissenserforschung am Ende des Tages, die uns allen aufgegeben ist. „Vor Sonnenuntergang Frieden schließen“ (RB 4,73) kann nur der, der sich zuvor an den Unfrieden erinnert hat. Allerdings auch nur der, gelernt hat, seiner eigenen Sündhaftigkeit nicht allzu große Aufmerksamkeit zuzuwenden, sondern bestrebt ist, diese zu überwinden und sich zu bessern.

Damit sind wir bei einem letzten Punkt, der mir in der Mönchstradition und auch beim hl. Benedikt wichtig erscheint. Das Erinnern hat auch seine Grenzen; nicht alles ist erinnerungswert und erinnerungswürdig. Ja, es gibt Dinge, die nicht immer wieder in die Erinnerung zurückgerufen werden sollten, da sie dem Menschen schaden. Es gibt also eine Form des Vergessens, die nicht nur legitim, sondern sogar verpflichtend sein kann – um der eigenen Person und ihrer Entwicklung, um des inneren Wachstums willen. Paulus spricht davon in seinem Brief an die Philipper: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt“ (Phil 3,13). Vergessen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, die Erinnerung zu verdrängen, sondern das Erinnerte loszulassen, um frei zu werden für Neues und Größeres. Denn nicht das Hinterherlaufen hinter immer wieder erinnerten Erfahrungen, Verletzungen, Gedanken, Trugbildern und Träumen lässt uns wachsen im geistlichen Leben, sondern eher das ruhige und zielgerichtete Voranschreiten auf dem einmal eingeschlagenen Weg. Die im Kap. 58 beschriebene Aufnahme der Brüder in die Gemeinschaft, aber auch die Schuldkapitel der Regel sprechen davon eine beredte Sprache. Ein Väterwort aus dem frühen Mönchtum, das dem Abbas Ruphos zugeschrieben wird, fasst es zusammen: „Herzensruhe ist: Mit Gottesfurcht und Gotteserkenntnis in seinem Kellion sitzen bleiben und sich der Erinnerung an empfangenes Unrecht und des Hochmuts zu enthalten.“

Erinnerung als Weg zur Heiligkeit – Die Memoria bei Hildegard von Bingen

Hildegard war mit Leib und Seele Schülerin des hl. Benedikt. Insofern ist es folgerichtig, dass auch ihr Umgang mit der Memoria, der Erinnerung – wir würden heute sagen – ganzheitlich ist, d.h. ihr ganzes Leben, Denken und Schaffen umfasst. Hildegard spricht nicht über Erinnerung, sondern ihr ganzes Werk ist Erinnerung: Erinnerung an Gott und an sein Handeln in der Welt. Es geht Hildegard nicht nur darum, Gott nicht zu vergessen, sondern die Erinnerung an ihn lebendig zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Rückschau greift aus in das Leben heute. Folgerichtig sind für sie die Heilige Schrift, die Liturgie, die Benediktsregel und auch das geistliche Leben insgesamt Memoriae Dei. Ihr Inhalt und ihr Zweck ist es allein, Gott und seine Heilstaten zu loben und gegenwärtig zu setzen.

Ihre eigenen Werke sieht Hildegard in eben dieser Tradition stehen. Es geht ihr nicht in erster Linie darum, bestimmte Inhalte – und seien sie noch so religiöser Natur – zu vermitteln, sondern an Gottes Gegenwart zu erinnern und seine Schöpfung zu preisen. So geht es im Buch „Scivias“ darum, an die Geschichte Gottes mit den Menschen, an das Wirken Jesu in seiner Kirche und die Kraft des Geistes Gottes zu erinnern (Trinität). Im „Liber vitae meritorum“ erinnert Hildegard den Menschen an das Handeln Gottes in den Virtutes, den Tugenden und Kräften des Hl. Geistes. Im „Liber divinorum operum“ schließlich erinnert sie uns an die wunderbare Schöpferkraft Gottes.

Hildegard hat in ihren Werken viele Begriffe ganz neu geprägt. Einer davon ist das wunderbare Wort „fenestraliter“, von „fenestra“ (Fenster). Fenster sein zum Himmel ist hiermit gemeint, durchlässig sein für das göttliche Licht – wir könnten auch sagen: an Gottes Sein und Macht und Stärke immer und in allem erinnern. Darum ging es Hildegard und das war und ist auch ihr persönliches Lebenszeugnis.

Deshalb ist für Hildegard das Gegenteil der Gottvergessenheit (Oblivio Dei) auch die Heiligkeit (Sanctitas). Der heiligmäßige Mensch lebt immer in der Gegenwart Gottes. Er erinnert sich allzeit an Gott und vergisst ihn nie. Der Gott vergessende Mensch dagegen denkt nur an sich und lebt nur für sich. Hören wir auf die Worte, mit der Hildegard selbst die Gottvergessenheit beschreibt: „Du siehst nun als dritte Gestalt die Gottvergessenheit … Menschen nämlich, die im Dienste Gottes stumpf geworden sind, bringen es so weit, dass sie Gott, als kennten sie ihn nicht, der Vergessenheit überantworten. Sie tragen kein Verlan-gen mehr danach, zu Ihm zu gelangen. Sie halten vielmehr ihre eigenen Entschlüsse für ihren Gott, wobei sie statt Gott nur den Satan erreichen … Sie sind ganz versessen auf das, wozu ihr eigener Geist sie führt. Diesem Laster leistet die Heiligkeit Widerstand. Sie ermahnt die Menschen, die Gottvergessenheit zu lassen [sich seiner Werke zu erinnern LVM IV,64)] und Gott wahrhaftig zu lieben“ (LVM IV, 39).

Steckt hinter dieser Definition von Heiligkeit nicht eine ganz große Verheißung? Jeder Mensch, der in und mit Gott lebt, der ihn nicht vergisst, sondern sich seiner erinnert, ist zur Heiligkeit berufen. Jeder ohne Ausnahme. Und damit sind wir alle gemeint.

Erinnern als Beruf(ung)

Damit komme ich zum letzten Punkt, in dem ich noch ein paar Gedanken von Henri Nouwen zusammenfassen möchte. In seinem kleinen, aber sehr wertvollen Buch mit dem Titel „Von der geistlichen Kraft der Erinnerung“ (Freiburg 1984), einen Titel, den ich mir für diesen Impuls ausgeliehen habe, weist Henri Nouwen den Seelsorgern – und in gewissem Sinne sind wir alle füreinander Seel-Sorger – im Zusammenhang mit der Erinnerung eine dreifache Aufgabe zu: 1) Durch Erinnern heilen; 2) Durch Erinnern Halt geben; 3) Durch Erinnern führen. Er setzt dabei voraus, dass es die große Berufung des Seelsorgers ist, „beständig Verbindungen zwischen der menschlichen und der göttlichen Geschichte herzustellen“ (Nouwen, S. 21).

Durch Erinnern heilen bedeutet dann, schmerzlichen Erinnerungen Raum zu geben, sie aus der individualistischen, privaten Sphäre emporzuholen und aufzudecken, dass unsere menschlichen Wunden aufs engste mit dem Leiden Gottes selbst verbunden sind. (siehe: ebd.) Das kann freilich nur einer, der selbst in Jesus Christus mit Gott verbunden lebt.

Durch Erinnern Halt geben können wir dann, wenn wir der Erinnerung an die Liebe und an die Treue Raum geben und uns von ihr erfüllen lassen. Je älter wir werden, desto mehr spüren wir dabei, dass Halt gebende Nähe aus dem Zusammenspiel von Anwesenheit und Abwesenheit erwächst. Auch die Jünger mussten dies erfahren, als der Herr ihnen sagte: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen“ (Joh 16,7). „Erst in der Erinnerung, wurde eine neue und persönlichere Gegenwart möglich, eine Gegenwart, die Kraft gab und Halt“ (Nouwen, S.40).

„Gute Erinnerungen sind eine gute Führung“, sagt Henri Nouwen (S. 60), und ich denke, damit spricht er allen vom hl. Benedikt Geprägten aus dem Herzen. Die Propheten Israels führten ihr Volk in erster Linie, indem sie es an Gottes Führung und Fügungen erinnerten – wir haben eingangs davon gehört. Ängstlichkeit und Engstirnigkeit, Selbstzufriedenheit und Passivität konnten und können durch solche Erinnerungen aufgebrochen werden hinein in eine neue Zukunft. Wenn heute soviel nach Visionen gefragt und verlangt wird, dann könnte es unsere Berufung sein, an die ursprüngliche Vision zu erinnern – sei es die eines hl. Benedikt oder die unserer Mütter und Väter. Aus einer erinnerten und wiedergewonnen Vision kann sich neues Leben entwickeln.

Machen wir uns also auf den Weg und erzählen wir uns Geschichten. In der Erinnerung liegt eine große geistliche Kraft.

Sr. Philippa Rath OSB