„Dies ist der Tag, den Gott gemacht hat. Darüber wollen wir uns freuen und jubeln!“ Dieses Wort aus Psalm 118 singen wir hier im Benediktinerinnenkloster St. Hildegard in Rüdesheim/Eibingen jeden Sonntag in der Frühe. Sie alle sind täglich in dieses Gotteslob eingeschlossen, denn das, so glauben wir, ist unsere Aufgabe: stellvertretend für die ganze Welt vor Gott zu stehen, ihn zu loben, ihm zu danken und für alle Menschen Gottes Segen und Heil zu erbitten.

Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt: Was suchen eigentlich Menschen in einem Kloster? Warum gehen auch heute noch junge Menschen ins Kloster? Was bewegt sie, wie vor ungefähr 1400 Jahren Benedikt von Nursia, ein so ganz anderes Leben zu wählen? Aber was ist da anders? Denn auch Klosterleute sind doch nur Menschen. Bei uns zum Beispiel leben ganz normale, alltägliche Menschen miteinander. Ist es nicht bei Vielen gängige Meinung, daß nur nostalgische Sehnsucht die einen heute in Sekten oder esoterische Zirkel, die anderen eben in ein Kloster treibt?

Wir alle erleben derzeit eine neue Wendezeit in Europa. Eugen Biser, der bekannte Religionsphilosoph diagnostiziert auch eine religionsgeschichtliche Wende. Das vormals christliche Abendland hat sich in eine säkulare Gesellschaft verwandelt. Die noch an Christus Glaubenden werden vom kulturellen Gegenwind aufgewirbelt. In eine ähnliche Zeitenwende hinein sprach Benedikt von Nursia im 6.Jh. Seine Zeit war gekennzeichnet vom Zusammenbruch des römischen Reiches; Italien wurde von den Goten besetzt, die Menschen lebten in großer wirtschaftlicher und sozialer Not. Die geistige und kulturelle Werteordnung geriet ins Wanken. In eine solche Zeit hinein sprach Benedikt Worte der Hoffnung, Worte, die für die Menschen damals und für uns Heutige neue Perspektiven für eine Zukunft jenseits politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Systeme aufzeigen. Was ist das für eine Hoffnung, die uns Benediktinerinnen und Benediktiner bewegt, unser Leben nach ihr auszurichten?

Ich möchte vier Aspekte nennen, die mir immer wieder neu Lebensorientierung waren und sind, die, wie ich meine, auch unserem Leben heute Sinn und Erfüllung schenken können.

Ein erster Aspekt:
„Der Liebe zu Christus soll nichts, überhaupt gar nichts vorgezogen werden.“ 

Dieses Wort hat Benedikt uns vor allem und über allem eingeprägt. Gott, Christus ist Ursprung, Sinn und Ziel unseres Lebens. Unser Leben soll allseitig auf Gott bezogen sein. Das klingt in einer Zeit, die alles außer Gott zu Gott macht – wir erleben es täglich neu – wie eine Antithese. Paul Celan, der jüdische Dichter, spricht in seinem Gedicht „Engführung“, in dem er fugenartig seine Lebensgeschichte umschreibt, von des Menschen Suche nach „Grundwasserspuren“. Er erfährt sich als „verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur“ auf der Suche nach „Grundwasserspuren“. Die Suche nach dieser Grundwasserspur ist auch das Entscheidende für ein Leben im Kloster. Wir glauben, daß Gott selbst das Grundwasser ist, daß er uns in allem und durch alles trägt, daß er der Lebensquell ist, daß er unsere Sehnsucht, aber auch unsere Ängste auffängt. Benedikt nennt als erstes Kriterium für die Prüfung, ob jemand im Kloster seinen rechten Lebensort gefunden hat, die Frage: „Ob einer wahrhaft Gott sucht“ (Benediktusregel 58). Ja, die Gottsuche gibt unserem Leben die untrügliche Ausrichtung. Gott suchen – suchen, nicht ihn schon gefunden haben, das ist Voraussetzung für ein Klosterleben. Wer meint, er hätte Gott schon gefunden, hätte ihn „fest im Griff und stets verfügbar“, der ist im Kloster an der falschen Adresse. Wir sind und bleiben immer Suchende, Fragende. Gerade im Fragen und Suchen verrät der Mensch auch, ob er noch Hoffender ist. Gott suchen selbst in den kleinsten und banalsten Vollzügen des Alltags, das ist unser Lebensprogramm. In allen Zweifeln und Unsicherheiten wollen wir wenigstens Fragende und Suchende bleiben, nicht utopistisch oder illusionistisch, sondern nüchtern, im Glauben an die Zukunft in Gott. Überall lassen sich im täglichen Leben Grundwasserspuren von Gottes Gegenwart finden, wenn wir wahrhaft und aufmerksam danach suchen, im Gebet, bei der Arbeit, ob am Kochtopf oder am Schreibtisch, in der Einsamkeit der Klosterzelle wie in der Gemeinschaft der Mitschwestern oder der Menschen, die zu uns kommen und nicht selten um Rat und Hilfe in vielerlei Lebenssituationen bitten. Am konkretesten zeigt sich die Gottsuche für uns jedoch im täglich feierlich vollzogenen Gottesdienst. Konsequent schreibt uns deshalb Benedikt ins Stammbuch: „Dem Gottesdienst darf nichts vorgezogen werden.“ Warum? – weil Gott dem Menschen nichts vorgezogen hat. Von ihm wissen wir uns geliebt und angenommen. Wie könnte ein dankbares Herz dies je vergessen? Im Gottesdienst begegnen wir täglich neu dieser Liebe Gottes, die für jeden Menschen nur das Gute, das Allerbeste anstrebt. Der Gottesdienst ist der bevorzugte Ort der Begegnung mit Gott, in ihm kommt er uns je neu zuvor, und wir haben die Chance, ihm zu danken für seine frei geschenkte Liebe. Leben im Geist des hl. Benedikt heißt denn auch: sich verdankt wissen, im Gegensatz zum Geist der Zeit, der uns weismachen will, der Mensch lebe in nicht rückgebundener Autonomie. Sich verdankt wissen – das ist urchristliche Überzeugung. Insofern heißt benediktinisches Leben einfach nur christlich leben, christlich in der Konsequenz eines christlich gelebten Alltags in Gemeinschaft unter der Führung des Evangeliums.

Ein zweiter Aspekt: 
Verfolgt man aufmerksam die Trends in unserer westlichen Welt, so fällt auf, daß immer häufiger Worte wie „Umkehr“ und „umdenken“ fallen, wenn es um das Problem der Wertekrise und des Normenverlusts in unserer Gesellschaft geht, und das bei Politikern aller Parteien. Umkehr – dieses urbiblische Wort hat Benedikt schon den Mönchen seiner Zeit als Lebensprogramm gegeben. Seine Zeit glich der unseren auch insofern, als damals noch niemand wußte – und auch heute niemand weiß -, wie es weitergehen sollte. Die Menschen suchten nach neuer Orientierung. Auf diese Suche wollte Benedikt antworten. Seine Klöster zeigten den Menschen seiner Zeit den Weg zu einem neuen Leben, in dem Gott und nicht die Götzen das Sagen hatten. Hinwendung zu Gott hieß damals und heißt heute: Abwendung von den selbstgezimmerten Götzen. Christlich leben, klösterlich leben im benediktinischen Sinn meint so auch heute noch: sich einlassen auf Ent-sagung im ursprünglichen Sinn des Wortes, Neinsagen zu bestimmten Normen und Verhaltensweisen, von der uns unsere Gesellschaft vorgaukeln will, sie gehörten unbedingt zu einem sinnerfüllten Leben. Von denen, die auch heute noch ins Kloster gehen, ist insofern eine kritische Distanz zu den Trends der Zeit gefordert; sie müssen den Mut haben, auch gegen den Strom zu schwimmen. Das ist nicht immer leicht. Es geht auch nicht darum, sozusagen aus Prinzip gegen die Zeit zu leben. Es geht vielmehr um ein Ja-sagen-Können zum Verzicht um eines höheren Wertes, um Gottes willen. Dies darf nicht verwechselt werden mit düsterer Weltverachtung, wenngleich auch im Kloster wie überall im Leben der positive Umgang mit der bitteren Lektion des Leids, der Enttäuschung und der Versuchung zur Resignation gelernt werden muß. Dennoch: Benedikt fordert uns und alle Christen dazu auf, sich nicht in Jammer und Selbstmitleid zu ergehen, und ruft uns mit Worten des Apostels Paulus zu: „Gott liebt einen fröhlichen Gebet!“ Verzichten um des Lebens willen, denn nur wer sich beschränkt, kann erfahren, welche Werte und Inhalte wirklich tragen. Wer alles wählt, wählt nichts. Wenn wir nur an das weltweite Dilemma der ethisch-sozialen Fragen und der Umweltprobleme denken, beginnen wir zu ahnen, daß es ohne Verzicht nicht geht. Wie anders sollten wir z.B. die Probleme der steigenden Rate der Arbeitslosigkeit, der wachsenden Armut auch in unserem Land lösen, wenn wir nicht alle zur Solidarität und Verzichtsetzung bereit sind? Wer benediktinisches Leben wählt, sagt Ja zu einem solidarischen Leben, zu einem Leben geistiger Konzentration, zu willentlicher und gezielter Selbstkontrolle; er entscheidet sich für eine Kultur des Humanen. Nicht das eigene Ich und seine kleine Welt ist letztes Ziel, sondern der je Größere, nämlich Gott selbst. Er ist uns Norm und Ziel. In ihm allein finden wir unsere eigentliche Größe und Freiheit.

Ein dritter Aspekt: 
Wer unsere Lebensform wählt, sagt Ja zu einem lebenslangen Eingefügtsein in eine konkrete Klostergemeinschaft. Diese Gemeinschaft lebt nicht auf Probe, sondern ist angelegt auf Bindung, Dauer und Ordnung. Sie richtet sich gegen die Instabilität und Bindungsscheu, die in jedem menschlichen Herzen leben. Der heutige Mensch ist wieder auf der Suche nach einem stabilen Lebensraum. „Treue“ wird in einer Welt ständiger Mobilität bisweilen atemloser Hektik und Unruhe, andauernd wechselnder Beziehungen wieder zu einem hochanstehenden Wert. Klöster wollen für diese Welt Stätten der Stabilität und Beheimatung sein. Dieses sehr hohe Ziel kostet unter Umständen viel an unerschütterlicher Hoffnung, an starkem Vertrauen, auch an Verzichtsetzung und Hintanstellung eigener Interessen. Das Lebensprogramm Benedikts möchte uns einen Weg aufzeigen, wie ein Prozeß des treuen Miteinanderlebens in Gang kommen kann trotz der Eigenarten, die jeder Mensch in eine Gemeinschaft mitbringt. Miteinander leben, d.h. bei uns konkret: Leben unter einem Dach mit fünf Generationen, mit ca. 60 Menschen, die ihre je eigene, unverwechselbare Biographie mitgebracht haben. Von uns aus gesehen ist das ein fast unmögliches Unterfangen, aber Gottes Möglichkeiten übertreffen alle unsere Vorstellungen. Gott selbst wird schon im ersten Buch der Bibel der Treue genannt. Treue ist demnach zuerst eine Eigenschaft Gottes selbst. Sie ist die Tat seiner Liebe. Auf die Treue Gottes darf sich der Mensch im Glauben verlassen – auch und gerade in schweren Zeiten. Gottes Treue überdauert unsere Untreue, unsere Abwendung von ihm und alle Hinwendung zu falschen Göttern. Seine Treue und seine Barmherzigkeit ermöglichen letztlich unsere Treue zu ihm, zu den Menschen, die mit uns den Weg des Lebens, den Weg zum Leben gehen und zu den uns anvertrauten Lebensaufgaben. Als Glaubende wissen wir, daß Glauben über weite Strecken einfach nur geduldiges Dabeibleiben heißt, Ausdauer, dabeibleiben auch unter der Last von Schwierigkeiten und Unsicherheiten, Treue in guten und bösen Tagen. Getragen werden wir von eben diesem Glauben, von der Hoffnung – oft wider alle Hoffnung, wie es Paulus im Römerbrief formuliert -, daß solches Ausharren Gottes Möglichkeiten aktiviert, wo wir mit unseren oft am Ende zu sein scheinen. Benedikt gibt uns ein wunderbares Wort mit auf den Weg: „Von der Hoffnung auf Gottes Erbarmen niemals lassen.“ Dieses Vertrauen stärkt täglich neu die Hoffnung und führt uns dem Ziel näher, das Benedikt uns in Anlehnung an den Psalmisten vor Augen stellt: das weitgewordene Herz, das Enge und Angst überwunden hat und fähig ist zu bedingungsloser Liebe. Mit diesem Ziel vor Augen können wir frohen Herzens täglich weitergehen. Wie herrlich ist es bisweilen, alte Menschen zu erleben, die in hohem Alter diesem Ziel näher gekommen sind! Welche Weite und Gelassenheit strahlen sie manchmal aus. Wie schön und wunderbar kann das Gesicht eines alten Menschen leuchten, dessen faltige Gesichtszüge die „Runen“ Gottes tragen. Ich durfte solche Menschen im Kloster erleben. Auf diese Weise Gottes Wirken im Menschen erfahren zu dürfen, das macht Mut zum Leben und zum vertrauensvollen Hoffen.

Ein vierter und letzter Aspekt:
Das treue Bleiben in der Gemeinschaft soll für uns im Kloster eine Lebensschulung sein, in der wir heranreifen sollen zum Guten. Eines der wichtigsten Ziele dieser Schulung benennt Benedikt wieder mit Worten aus dem Römerbrief: „Sie sollen einander in Ehrfurcht zuvorkommen.“ Ehrfurcht, das ist wie Treue eine Alltagsform der Liebe, von der Thomas von Aquin sagt, sie habe ihren sitz im Willen des Menschen. Ehrfurcht gehörte lange Zeit zu den vergessenen Haltungen unserer Kultur. Aber so langsam erobert sich diese Haltung wieder ihren Platz. Ehrfurcht, das ist für uns ein Lernziel wie für alle Menschen, ja wirklich ein Lernziel, denn wer könnte leichtfertig von sich behaupten, dieses Ziel schon erreicht zu haben? Ehrfurcht, das ist die Fähigkeit, die Haltung des Sich-Verneigens vor der Größe und Schönheit Gottes, die uns in jedem Menschen, wie in jedem Geschöpf, wie in den Geheimnissen der Natur begegnen können. Der ehrfürchtige Mensch fürchtet sich, das heißt sorgt sich um die Ehre eines anderen, um die Ehre Gottes und die der Mitmenschen und der ganzen Schöpfung. Er hat Respekt vor dem Anderssein des anderen und sieht dieses Anderssein als eine von Gott geschenkte Gabe. Er weiß, daß wir nicht übereinander verfügen, sondern einander stehen und bestehen lassen wollen. So befreit die Haltung der Ehrfurcht uns aus egoistischen Zwängen und öffnet uns für das Geschenk des je Größeren. Aus ihr entwachsen dann auch bestimmte Umgangsformen, ein Lebensstil, der die Achtung in Wort und Tat zum Ausdruck bringt. Damit ist nicht „Verschrobenheit“ gemeint, sondern eine Haltung, die unsere Lebensform gerade in ihrer Kostbarkeit zu wahren hilft. Nicht umsonst hat man vor einiger Zeit in Dänemark das Schulfach „Höflichkeit“ eingeführt. Ehrfurcht ist auch lernbar, allerdings in einem lebenslangen Lernprozeß. Ehrfurcht soll das Leben reicher, menschlicher und damit christlicher und dem Evangelium gemäßer machen; Ehrfurcht will uns erziehen zu einer Zivilisation der Liebe und gegenseitiger Achtung.

Das sind Grundwasserspuren, die uns das Evangelium und die Lebensregel Benedikts als Quellen erfüllten, hoffnungsfrohen Christseins mit auf den Weg geben. Sie wollen uns ermuntern, auf der Spur zu bleiben. Dann werden wir auch für das 3. Jahrtausend Zukunft erhoffen dürfen im Vertrauen auf den Gott, der uns diese Zukunft verheißen hat. Diese Grundwasserspuren verwandeln den Alltag nicht in ein Paradies, geben aber Lebenskraft und streben nach Lebensfülle.

„Also stehen doch noch Tempel. Ein Stern hat wohl noch Licht. Nichts, nichts ist verloren“ schreibt Paul Celan. Dies ist die Botschaft, die auch Benedikt in der Sprache unserer Zeit hätte formulieren können.

Sr. Christiane Rath OSB