Disibodenberg

Am 1. November 1112 beginnt für Hildegard das Leben auf dem Disibodenberg. Hildegard lebt dort in der Frauenklause ein klösterliches Leben nach der Regel des heiligen Benedikt. Durch ihre Lehrmeisterin Jutta von Sponheim erhält sie eine breit angelegte fundierte klösterliche Bildung: Sie lernt lesen, schreiben und singen, aber auch umfangreiche Kenntnisse der Heiligen Schrift, der Musik sowie der Natur- und Pflanzenkunde. Hier entsteht ihr Erstlingswerk „Scivias“. Papst Eugen III. hält sich 1147/48 in Trier auf und hört von Hildegard. Er lässt ihre Sehergabe durch eine Kommission prüfen und bestätigt sie. In einem Brief fordert er sie auf, ihre Schriften weiterzuführen. Für Hildegard ist dies Anerkennung, Ermutigung und Anspornzugleich. Für ihre Umgebung ist es der endgültige Beweis, dass die Meisterin vom Disibodenberg eine wirkliche »PosauneGottes« ist. Parallel zu diesen Ereignissen verfolgt Hildegard die Absicht, ein eigenes Kloster zu gründen.

Rupertsberg

Hildegard erwirbt Gelände auf dem Rupertsberg bei Bingen und erbaut dort mit den Schwestern ein Kloster nach ihren Vorstellungen. Zwischen1147 und 1151 erfolgt die Umsiedlung. Eine Urkunde des Mainzer Erzbischofs Heinrich vom 1. Mai 1152 dokumentiert die Weihe der Kirche. Mit dem Abt vom Disibodenberg gibt es Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der Klostergründung und den Besitz. Hildegard nutzt ihre gutenVerbindungen und erhält Urkunden, die dem Kloster weitgehende Unabhängigkeit sichern. 1632 wird das Kloster im Dreißigjährigen Krieg zerstört.

Eibingen

Hildegards Berühmtheit sorgt für beständigen Zulauf auf dem Rupertsberg. Schon bald wird das Kloster zu klein. In Eibingen kauft sie ein verlassenes Kloster. 1165 erfolgt die Einweihung. Hildegard wird auch Äbtissin des zweiten Klosters und fährt regelmäßig über den Rhein, um die 30 Schwestern in Eibingen zu besuchen. Im Jahr 1802 wird das Kloster im Zuge der Säkularisation aufgehoben; sämtliche Besitzungen gehen verloren. 1831 wird die Klosterkirche zur Pfarrkirche von Eibingen.

Neugründung Abtei St. Hildegard

1904 beziehen nach vierjähriger Bauzeit 12 Schwestern aus der Abtei St. Gabriel in Prag das neu errichtete Kloster hoch über dem Rhein. Das Kloster wird zu einer vollgültigen Abtei erhoben und mit allen Rechten und Privilegien der ehemaligen Klöster der heiligen Hildegard ausgestattet. Es untersteht nicht dem Ortsbischof, sondern unmittelbar dem Heiligen Stuhl in Rom. Der Konvent der Abtei St. Hildegard betrachtet es als seine herausragende Aufgabe, das Erbe der heiligen Hildegard zu erforschen und zu pflegen und ihr Leben und Werk als zeitlos aktuelle Botschaft an die Menschen weiterzugeben.

Zu den wichtigsten Handschriften der hildegardischen Werke gehört der Lucca-Codex des Liber divinorum operum, der  bis heute unversehrt erhalten ist.

Die Handschrift ist mit reichen Miniaturen illuminiert und gibt Zeugnis von der hohen Kunst mittelalterlicher Buchmalerei. Die 10 Tafeln des Lucca-Codex entstanden erst in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, vermutlich in der Schreibstube eines mit dem Kloster Rupertsberg in Verbindung stehenden Klosters. Den Malern dieser Miniaturen standen als Vorlage nur die Texte Hildegards zur Verfügung.

Allen Miniaturen gemeinsam ist, dass sie dem Betrachter einen außergewöhnlichen Einblick in den Reichtum der in Bilder umgesetzten Visionen Hildegards gewähren.

Wie wunderbar ist doch das Wissen im Herzen Gottes,
der urewig jedes Geschöpf hat erschaut.
Denn Gott, da er blickte ins Antlitz des Menschen
Er sah all sein Werk insgesamt in dieser Menschengestalt.
Wie wunderbar ist doch der Hauch, der den Menschen zum Leben erweckte.

Der Mensch durch den Hauch Gottes zum Leben erweckt, ist das Thema in Hildegards Schriften, die heute in allen Erdteilen, auf der ganzen Welt bekannt sind. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist es hilfreich, Aussagen über den Menschen aus unserer christlichen Kultur zu haben in Hildegard von Bingen, die grundlegend für alle Menschen gelten, unabhängig von Religion und Konfession.

Hildegard, das zehnte Kind, aus dem fränkischen Hochadel bei Bermersheim, lebte von 1098 bis 1179. Die nach ihrem Tod entstandene Vita enthält auch autobiographische Aufzeichnungen.

„In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern.
Bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, manches erzählte ich einfach, so dass die es hörten, sich wunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst. Während ich tief in meiner Seele schaute, behielt ich doch das äußere Sehvermögen. Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte.

Viele äußere Dinge erfuhr ich nicht wegen der häufigen Erkrankungen, an denen ich von der Muttermilch an bis jetzt gelitten habe, die meinen Leib schwächten. Als ich davon erschöpft war, versuchte ich von meiner Amme zu erfahren, ob sie irgendetwas sähe, abgesehen von den äußeren Dingen. Und sie erwiderte nichts, weil sie nichts dergleichen sah. Da ward ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandem zu offenbaren.“( Vita , S. 71 / 72 )
Dieses Sehen des “lebendigen Lichtes“, das Gott von Kindheit an Hildegards Seele eingeprägt hatte, diese Gabe der Schau, blieb viele Jahre verborgen, bis zu dem Tag, an dem es Gott offenbaren wollte.

Wie es in jener Zeit üblich war, wurde Hildegard, das 10. Kind, von ihren Eltern für das religiöse Leben bestimmt. Mit 14 Jahren ging Hildegard mit der Verwandten Jutta von Sponheim ,die 20 Jahre alt war, in die Frauenklause auf den Disibodenberg. Im Schatten des dortigen Männerklosters lebten sie nach der Regel des hl. Benedikt. Um 1114 erhielt Hildegard, die sich den Wunsch ihrer Eltern zu eigen gemacht hatte, den Schleier durch Bischof Otto von Bamberg. Hildegard, die sich eine ungelehrte Frau nannte, hatte einen Elementarunterricht in der Vulgata-Bibel und lateinischen Kirchenvätern halten, ebenso etwas in den sieben freien Künsten und dem liturgischen Leben der Benediktiner. Nach dem Tode der Jutta von Sponheim wurde Hildegard im Jahre 1136 die Leitung der angewachsenen Frauengemeinschaft als Magistra übergeben.

Als Hildegard 42 Jahre und 7 Monate alt war, sah sie plötzlich einen überhellen Glanz und hörte eine Stimme vom Himmel, die ihr zurief: „Du hinfälliger Mensch, du Asche, du Fäulnis, sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Schreibe, wie es dem Willen dessen entspricht, der alles weiß, alles sieht und alles in der Verborgenheit seiner Geheimnisse anordnet.“ „Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. Es verbrannte nicht, war aber heiß wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen. Plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen Bücher des Alten und Neuen Testamentes.“

(WW, Vorrede) ,Hildegard, die seit ihrer Kindheit wundersame Gesicht schaute, hatte alles mit Schweigen begraben bis zu diesem Eingreifen Gottes. „Die Gesichte, die ich sah, empfing ich nicht im Schlaf, sondern im wachen Zustand, bei klarem Verstand, durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, an zugänglichen Orten, wie Gott es wollte.“ „Ich sehe diese Dinge einzig in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen“, schreibt Hildegard später an den Mönch Wibert von Gembloux, „wachend schaue ich dies, so dass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide. Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als „der Schatten des Lebendigen Lichtes“ bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. Von meiner Kindheit an erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, wo ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin. (BW S. 227)
Hildegard hörte nach ihrer Erleuchtung:
„Ich, das lebende Licht, das die Dunkelheit erleuchtet, habe den von mir erwählten Menschen herausgeholt und unter große Wunder versetzt, wie es mir gut schien. Sie übertreffen alles, was die alten Seher in mir an Geheimnissen schauen durften. Doch warf ich ihn zur Erde, damit er sich nicht in Geistesstolz erhebe. Du, aber Mensch, der du das zur Offenbarung des Verborgenen Bestimmte in einfacher Klarheit empfängst, schreibe, was du siehst und hörst!“

„O hinfälliger Mensch aus Erdenstaub, sprich über den Zugang zur unvergänglichen Erlösung, damit alle belehrt werden, die den inneren Gehalt der Schriften kennen, ihn jedoch nicht aussagen und verkünden wollen. Ergieße dich wie ein überfließender Quell, erhebe dich, rufe und verkünde, was dir kraft göttlichen Beistandes offenbart wird. Denn er, der seine Schöpfung kraftvoll und gütig regiert, durchströmt mit dem Licht himmlischer Erleuchtung, die ihn fürchten und ihm in freudiger Liebe im Geist der Demut dienen. Und er führt sie zu den Freuden der ewigen Schau, wenn sie auf dem Weg der Gerechtigkeit ausharren.“
(WW S.10)

Bezwungen durch viele Krankheiten, legte Hildegard Hand ans Schreiben und brachte dieses Werk in zehn Jahren zustande: „Wisse die Wege“, „Scivias“. In dieser Glaubenskunde stellt die Seherin das Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen von seinem Beginn bis zu seiner Vollendung in großartigen Bildern dar. Das Werk ist in 3 Teile gegliedert:
Im 1. Teil geht es um die Schöpfung, den Fall der Schöpfung und die Folgen des Sündenfalls.
Der 2. Teil hat die Erlösung durch Christus und die Fortsetzung des Erlösungswerkes durch die Kirche zum Gegenstand. Der 3. Teil stellt das gesamte Heilgeschehen unter dem Bild eines Gebäudes dar, an dem bis zum letzten Tag , dem Tag der großen Offenbarung, gebaut wird. Scivias zeigt die Wege auf, die Gottes Weisheit mit der Schöpfung und dem Menschen ging, um die gefallenen Menschen zu erlösen, bis diese Wege am Ende der Zeiten in den Schoß des dreifaltigen Gottes münden.
„ Scivias, Wisse die Wege“ ist zwischen 1141 und 1151 entstanden und wurde mehrfach abgeschrieben. Es gibt 10 vollständige und 7 fragmentarische Textzeugen, Wiesbaden (Eibingen), Vatikan, Heidelberg, Eberbach, Gent, München, Brüssel, Dendermonde, Bernkastel-Kues, Oxford, Fulda, Berlin, Hannover, Trier, Mainz.
„Scivias“ beginnt nach der Vorrede mit der ersten Vision über den „Lichtherrlichen“, der als eine Gestalt von solchem Glanz auf einem großen eisenfarbenen Berg thronte, dass ihre Herrlichkeit die Augen Hildegards blendeten. Mit dem Lobpreis der Heiligen schließt das Buch „Scivias“.
Hildegard war von Papst Eugen III. mit den Bischöfen auf der Trierer Synode in ihrer Sehergabe bestätigt worden, nachdem diese einige Visionen aus Scivias gelesen hatten.

In die Zeit der 1. Visionsschrift fiel die Weisung Gottes von den Mönchen auf dem Disibodenberg wegzuziehen und ein eigenes Kloster zu bauen auf dem Rupertsberg am Zusammenfluß von Nahe und Rhein, bei Bingen. Durch Krankheiten wurde die Seherin stark gehemmt und oft in schwere Schmerzen verstrickt, wie auch jetzt durch den Widerstand der Mönche. Doch Gott hat Hildegard immer wieder neu belebt.
Unter großen Schwierigkeiten zog Hildegard im Jahre 1150 mit 18 Nonnen in das Kloster auf dem Rupertsberg, weil Gott es wollte. Dort schrieb sie ihr erstes Werk, „Wisse die Wege“, zu Ende.

Das zweite große Visionswerk, das Hildegard von 1158 bis 1163 verfaßte, ist das „Buch der Lebensverdienste, der Liber Vitae Meritorum“, vom Übersetzer Heinrich Schipperges Der Mensch in der Verantwortung genannt. „Als ich 60 Jahre alt geworden, erlebte ich eine gewaltige und wunderbare Schau, auch mit diesem Gesicht hatte ich ein halbes Jahrzehnt zu tun.“ (LVM S. 27)Inhaltlich geht es um den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Tugenden und Lastern sowie um die Rückbesinnung des Menschen auf seine schöpfungstheologische Gottebenbildlichkeit. Der Mensch ist von Natur aus gut. Es liegt allein am Menschen, wenn er seine Natur in ihr Gegenteil verkehrt, indem er seinem Fleisch die Zügel schießen lässt.

Die Tugenden oder Gotteskräfte stehen den Lastern, vitia, in 35 Gegensatzpaaren gegenüber. So schaute Hildegard die Gestalt der Hartherzigkeit mit großen schwarzen glotzenden Augen, die ohne sich zu bewegen in der Finsternis verharrte und sprach: „Ich habe nichts hervorgebracht und niemanden ins Dasein gesetzt. Warum sollte ich mich um etwas bemühen oder kümmern? Das werde ich schön bleiben lassen. Ich will mich für niemanden einsetzen, als auch er mir nützlich sein kann. Gott, der alles geschaffen hat, der soll für sein All Sorge tragen! Würde ich immer solches Mitleid in mir hegen, dass ich gar nicht zur Ruhe käme, was würde dann von mir selber noch übrig bleiben? Was für ein Leben müsste ich führen, wenn ich auf alle Stimmen der Freude oder der Trauer antworten wollte! Ich weiß nur von meiner eigenen Existenz.“ Ihr antwortet die Barmherzigkeit: „O du versteinertes Wesen! Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten; ein Stein strahlt seinen Glanz auf die andern und jede Kreatur hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung. Auch steht die ganze Natur dem Menschen zu Diensten, und in diesem Liebesdienst legt sie ihm freudig ihre Güter ans Herz.

Ich aber bin in Luft und Tau und in aller grünenden Frische ein liebliches Heilkraut. Übervoll ist mein Herz, jedem Hilfe zu schenken. Mit liebendem Auge berücksichtige ich alle Lebensnöte und fühle mich allem verbunden. Den Gebrochenen helfe ich auf. Eine Salbe bin ich für jeden Schmerz.“ (LVM S. 34) In der Tugendgestalt der Barmherzigkeit kommt uns Gottes Erbarmen mit seiner Schöpfung entgegen.

Gott, Kosmos und Mensch sind aufeinander bezogen. Die Gestalt des „vir“ ist die Zentralfigur, die vom Himmel bis zur Erde reicht, alle Elemente berührt und den Mittelpunkt des Universums bildet: “Ich sah einen Mann von solch hohem Wuchs, dass er von der oberen Höhe der Himmelswolken bis hinunter in die Abgründe reichte.“ In diesem Werk befasst sich Hildegard mit vielen Lebensfragen und hält den Menschen den Spiegel vor Augen im Unglauben, der Hoffnungslosigkeit, in der Sexualität, Abtreibung, Kindsmord. Das Buch der Lebensverdienste schließt: „ Der Mensch, der dies schaut und im Schreiben weitergibt, sieht und sieht doch nicht. Er trägt Gottes Wunderdinge nicht aus sich vor, ist vielmehr davon ergriffen, wie eine Saite durch den Spieler ergriffen wird, um ihren Ton nicht aus sich, sondern aus dem Griff eines anderen wiederzugeben. Dies ist von der lebendigen Stimme des lebendigen und unvergänglichen Lichtes vorgetragen und ausgesprochen worden. Und es ist die Wahrheit. Und der gläubige Mensch achte darauf, und er halte es ganz fest im Gedächtnis seines guten Gewissens.“

Der Codex, aus dem der Liber Vitae Meritorum beim Mittagstisch der Mönche in Villers gelesen wurde, liegt heute unter der Signatur 9 in der Abtei Dendermonde. Kardinal Pitra fertigte auf der Grundlage dieses Textzeugen 1882 die Erstausgabe an.

Der Liber Vitae Meritorum liegt in 5 vollständigen und in 2 unvollständigen Handschriften vor, in Dendermonde, Trier, Berlin, Wiesbaden (Riesenkodex), Wien. Die Handschrift Dendermonde 9 wurde zu Lebzeiten Hildegards im Kloster Rupertsberg geschrieben. Vom LVM existiert keine illuminierte Prachtausgabe wie vom Liber Scivias .

Die Editio princeps des Liber Vitae Meritorum kam erst 1882 zustande. Sie wurde von Kardinal Pitra innerhalb einer von ihm besorgten Ausgabe verschiedener Hildegard-Schriften veranstaltet.

Die dritte große Visionsschrift Hildegards, an der sie von 1163 bis 1174 arbeitete, ist das Buch der Gotteswerke, Vom Wirken Gottes, der Liber Divinorum Operum. In diesem Werk geht es um die große und kleine Welt, den Makrokosmos und Mikrokosmos. Hildegard schaut Gott, Welt und Mensch in ihren Beziehungen zueinander, belebt vom ewigen Wort, durch das die Schöpfung entstand und das Mensch wurde ein Jesus Christus. Das Werk enthält 10 Visionen. Eine Schlüsselstellung nimmt die Interpretation des Prologs vom Johannes-Evangelium am Ende der vierten Vision ein. Die erste Vision gibt den Grundton und die Finalis an, als Hildegard eine Stimme vom Himmel hörte, die zu ihr sprach: „Gott, der alles erschaffen hat, bildete den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis und zeichnete in ihn die niederen und höheren Kreaturen. Er liebte ihn mit solch großer Liebe, dass er die Stelle des gefallenen Engels für ihn bestimmte und jenen Ruhm und Herrlichkeit ihm zumaß, die dieser einst in seiner Glückseligkeit verloren hatte. Das bedeutet die Schau dieses Bildes:“
Die „Acta canonisationis“ bezeugen die 3. Visionsschrift. Hildegards Schriften wurden den Pariser Theologen zur Prüfung vorgelegt. Wilhelm von Auxerre bekräftigten den göttlichen Ursprung.
Der Liber divinorum operum liegt in 6 vollständigen und in einem fragmentarischen Textzeugen vor, in Gent, Wiesbaden,(Riesenkodex), Troyes, Lucca, Trier (Stadtbibliothek), London, Frankfurt. Die Genter Handschrift (Leitschrift)lässt sich als typisches Produkt des Rupertsberger Skriptoriums und seiner Schreiber zu Hildegards Lebzeiten erweisen. Diese ist entweder von Hildegard selbst oder nach ihrem Tod von den Rupertsberger Schwestern an den Konvent von Trier übergeben worden sein. Der Lucca-Codex , aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, gehört zu den luxurösesten Hildegard-Handschriften auf grund seiner äußeren Gestalt mit den beigefügten Miniaturen. Der Lucca-Codex zeigt Abweichungen vom Genter-Codex, damit eine größere Unabhängigkeit von seiner Vorlage als der Riesencodex und die Handschrift Cod. Troyes 683. Die Editio princeps des Liber divinorum operum entstand erst 1761, ca. 250 Jahre nach jener des Scivias.

In Hildegards Schriften, die der Niederschlag ihrer Visionen und Auditionen sind, geht es stets um den Menschen, der Geschöpf Gottes und Abbild Gottes ist. Gott hat dem Menschen
die Schöpfung als Lebensraum gegeben damit der Mensch mit der Schöpfung wirke zum Lobe seines Namens. (Der Mensch, das inniggeliebte Abbild Gottes, soll sich im Lobpreis auf seinen Schöpfer und Erlöser hin verwirklichen. Mit seinem innersten Seelengrund sehnt sich der Mensch nach dem Kusse seines Gottes. Durch den Erlöser, den Menschgewordenen, ist der Mensch am Herzen Gottes beheimatet.)
Die Briefe sind neben Hildegards Visionsschriften von besonderer Bedeutung. Sie sind im Rahmen ihrer 4 Reisen entstanden. Im Liber vitae meritorum weist die Seherin selbst darauf hin, indem sie ihre bis dahin verfassten Werke aufzählt. „Es war das erste Jahr, nachdem dieses Gesicht mir folgende Schriften zu erklären gegeben hatte: „Die Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe“, ferner Antworten und Ermahnungen an zahlreiche Personen hohen und niederen Standes, dann die „Sinfonie der Harmonie himmlischer Offenbarungen“ und „Die unbekannte Sprache“, schließlich die Briefe mit einigen anderen Erklärungen, unter denen ich insgesamt acht Jahre lang nach den erwähnten Visionen ausgeharrt hatte, durch viel Kranksein und starke körperliche Beschwernisse belastet.“
(LVM S. 27)
Die Äbtissin vom Rupertsberg lebte aus ihrer Schau heraus, d.h. viele ihrer Aussagen und Entscheidungen entstammten dem Zusammenwirken ihrer Denkkraft mit der ihr von Gott geschenkten Schau. Der Briefwechsel begann 1147 / 48 mit Bernhard von Clairvaux, nahm nach der Synode von Trier (1148 / 49) sprunghaft zu und erstreckte sich in den folgenden Jahrzehnten über das Deutsche Reich hinaus nach Dänemark, England, Frankreich, Schweiz, Italien und Griechenland. Die meisten Schreiben Hildegards waren Antwortbriefe. Wachsam beobachte Hildegard das politische Geschehen ihrer Zeit und nahm Stellung zu brennenden Fragen. 4 Briefe schrieb sie an Kaiser Friedrich I., ein Schreiben richtete der Herrscher an Hildegard. Als Friedrich Barbarossa 1168 den dritten Gegenpapst aufstellte, sandte sie ihm einen Brief . Sie stellte dem Herrscher das Gottesgericht vor Augen.
„O König, es ist dringend notwendig, dass du in deinen Handlungen vorsichtig bist. Noch hast du Zeit über irdische Dinge zu herrschen. Gib acht, dass der höchste König dich nicht zu Boden streckt wegen der Blindheit deiner Augen, die nicht richtig sehen, wie du das Zepter zum rechten Regieren in deiner Hand halten musst. Darauf hab acht! Sei so, dass die Gnade Gottes nicht in dir erlischt!“
Im 4. Brief ruft Hildegard dem Kaiser zu:
„Der da ist, spricht: die Widerspenstigkeit derer, die mir trotzen, zermalme ich durch mich selbst. Wehe, wehe diesem bösen Tun der Frevler, die mich verachten! Das höre, König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert dich durchbohren.“ (BW S. 86)
390 Briefe sind uns überliefert und kritisch ediert von Lieven Van Acker und von Monika Klaes in deutscher Sprache. Die wichtigsten Textzeugen des 12. bis 15. Jahrhunderts sind: Zwiefaltner Briefhandschrift in Stuttgart, Wien, Berlin, Trier, Wiesbaden, Riesenkodex, London, Brüssel, Florenz, München, Paris. Es bestand eine Nachfrage nach Hildegard-Briefen. Die meisten Sammlungen sind auf dem Rupertsberg entstanden. Viele Briefe haben eher den Charakter von Sermones, Lehrschreiben, Brieftraktaten.
Die Editio princeps des Epistolariums (Köln 1566) basierte maßgeblich auf dem Textzeugen des Riesencodex.

Hildegard von Kindheit an bis ins hohe Alter mehr oder weniger krank, besaß eine besondere Fähigkeit, Kranke zu verstehen und ihnen zu helfen. Sie hatte die Gabe der Heilung und der Dämonenaustreibung von Gott. Ihre natur- und heilkundlichen Schriften sind heute im Rahmen der Naturheilkunde als Ergänzungsheilkunde zur Allgemein-Medizin aktuell und von vielen Menschen angefragt. „Physica, die Heilkraft der Natur“ und „Causae er Curae, Heilwissen“ sind nicht aus Hildegards Zeit überliefert. Die ältesten uns überlieferten vollständigen Textzeugen der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards, die Kopenhagener Handschrift mit dem Liber compositae medicinae sowie die Florentiner und die Wolfenbütteler Handschriften mit dem Liber simplices medicinae datieren erst aus dem beginnenden 13. bzw. endenden 14. Jahrhundert. Hildegard führt im Vorspann zum Liber vitae meritorum den Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum an, der ihre bis 1163 entstandenen Werke benennt. Durch eine Vision veranlasst, sagt Hildegard, so werden diese Schriften auf die gleiche Bedeutungsebene gehoben wie die eigentlich visionären.
Für Hildegard ist die Schöpfung mit den Pflanzen, Tieren, Steinen, Elementen nicht zu trennen von der Wirklichkeit Gottes, der seine ganze Schöpfung mit seiner Lebens – und Liebeskraft, der Grünkraft, mit seinem Heiligen Geist durchströmt. Alles schaute sie im Licht Gottes. Wenn auch die natur- und heilkundlichen Schriften der hl. Hildegard nicht zu den geistlichen, theologischen Schriften zählen, aber alles, was von der „Posaune Gottes“ kommt, steht im Zusammenhang mit Gott und der Schöpfung. So wollen auch die konkreten Hinweise z.B. über den Dinkel den Menschen innerlich heilen, wie eine gute Salbe und ihn in seinem Gemüt froh stimmen und helfen in der Gottverbundenheit lebendig zu sein.
Hildegard war allen Seinsbereichen der Gottesschöpfung zugewandt, so war sie auch auf dem Gebiet der Musik schöpferisch tätig. 77 Lieder und das geistliche Singspiel Ordo Virtutum, Spiel der Kräfte sind überliefert. Von einem Hymnus auf den Heiligen Geist greife ich einige Verse heraus, in denen es auch um das Salben, Heilen, Retten geht. Der Mensch, mit dem Öl der Barmherzigkeit gesalbt, mit der heilenden Kraft des Heiligen Geistes gestärkt, erfährt so Rettung und Erlösung, Befreiung für das ewige Leben in der Schau des dreifaltigen Gottes.

O Feuergeist, Lob sei dir! Du wirkst beim Pauken – und Zitherspiel.
Die Herzen der Menschen erglühen von dir.
Aus Zöllnern und Sündern, die ihre Sünden und Taten vor dir bekennen,
hast du einen Turm gebaut.
Darum preisen dich alle Geschöpfe, die leben aus dir.
Denn du bist die kostbare Salbe
für die gebrochenen Glieder und eiternden Wunden,
die du verwandelst in kostbare Gemmen.
Nun sammle uns alle in Gnaden zu dir
und leite uns hin auf den rechten Weg. (Lieder, S. 231 / 132 )

Im Jahre 1165 erwarb Hildegard von Bingen das Kloster Eibingen. bei Rüdesheim. Sie vollendete ihre langen, mühevollen Weg am 17. September 1179 auf Kloster Rupertsberg, tief verwurzelt in Gott, beschenkt mit dem Charisma der Schau, die Last und Lust bedeutete, gehorsam dem empfangenen Auftrag Gottes.
Die älteste Lebensbeschreibung berichtet von einer Lichterscheinung am Himmel nach dem Heimgang der Rupertsberger Äbtissin. Sie durfte in die unverhüllte Schau des lebendigen Lichtes eingehen, dessen Abglanz sie in ihrem Herzen getragen hatte und in der Vision vom Dreifaltigen Gott hat schauen dürfen.

Mit der Schau des Geheimnisses des Dreieinen Gottes möchte ich den 1. Teil meiner Ausführungen schließen.

Wisse die Wege, 2. Vision, 2. Teil
„Ich sah ein überhelles heiteres Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht war. Und das helle Licht überstrahlte das ganze rötliche Feuer und das rötliche Feuer das ganze helle Licht und das helle Licht und das rötliche Feuer die ganze Menschengestalt, so dass sie ein einziges Licht in derselben Stärke und Leuchtkraft bildeten.“
Du siehst ein überhelles heiteres Licht, das den Vater bezeichnet, und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die den Sohn darstellt, der vor aller Zeit, seiner Gottheit nach, vom Vater gezeugt, doch dann in der Zeit, gemäß der Menschheit, auf Erden Fleisch wurde. Sie wird völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht, dem Heiligen Geist, von dem der Eingeborene Sohn Gottes dem Fleisch nach empfangen und von der Jungfrau in der Zeit geboren wurde und das Licht der wahren Herrlichkeit über die Welt ausgoß.
Der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, weder Vater noch Sohn ohne den Heiligen Geist oder der Heilige Geist ohne sie beide. Deshalb unterlasse es der Mensch nicht, mich den einzigen Gott, in diesen drei Personen anzurufen. Ich habe sie nämlich dem Menschen geoffenbart, dass er umso heißer in der Liebe zu mir entbrenne, da ich ihm zuliebe meinen Sohn in die Welt sandte.
Gott gedachte barmherzig seines großen Werkes und seiner kostbaren Perle, nämlich des Menschen, den er aus dem Lehm der Erde gebildet und dem er den Lebensodem eingehaucht hatte. Durch den Lebensquell des Wortes kam nämlich die umarmende Mutterliebe Gottes zu uns; sie nährt unser Leben, hilft uns in Gefahren und leitet uns als tiefe und zarte Liebe zur Buße an.
Die Erlösungstat der Liebe ging nicht von uns aus, wir vermochten nicht Gott zu unserer Rettung zu lieben, vielmehr hat er, als Schöpfer und Herr, sein Volk so geliebt, dass er seinen Sohn, das Haupt und den Retter der Gläubigen sandte. Er wusch und reinigte unsere Wunden.
Daher, o Mensch, erkenne in den drei Personen deinen Gott, der dich erschaffen und vor dem Verderben gerettet hat. Vergiß nicht deines Schöpfers, umarme Gott im Licht deiner Lebenskraft, bevor die Stunde der Läuterung deiner Werke kommt!“

Lob der Dreieinigkeit,
sie ist Klang und Leben,
Schöpferin des Alls,
Lebensquell von allem,
Lob der Engelscharen,
wunderbarer Glanz all des Geheimen,
das den Menschen unbekannt,
und in allem ist sie das Leben. (Lieder, S.230)

 

Literatur:

Hildegard von Bingen, Leben, berichtet von den Mönchen Gottfried und Theoderich , V

Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, übersetzt v. Walburga Storch OSB , WW, Sc

Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung, übersetzt v. Prof. Schipperges LVM, MV

Hildegard von Bingen, Vom Wirken Gottes, übersetzt v. Mechthild Heieck, LDO

Hildegard von Bingen, Briefwechsel, übersetzt v. Adelgundis Führkötter OSB, BW

Hildegard von Bingen, Lieder, übersetzt v. Maria Immaculata Ritscher OSB L

Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, Akademie Verlag, 2004
Die Spiritualität der heiligen Hildegard

Versuch einer Annäherung in den Visionen über den Ursprung des Lebens, über die Elemente im Bau der Welt und über die Liebe Gottes (1., 2. und 10. Vision aus dem LDO)

Das Wort „Spiritualität“ stammt aus dem Französischen „spiritualité“. „Vor aller begrifflichen Klärung bezeichnet Spiritualität die gelebte Grundhaltung der Hingabe des Menschen an Gott und an seine Sache. Deshalb ist Spiritualität eine vielgestaltige Größe wie das Leben selbst und wie die Vielgestaltigkeit möglicher Beziehungen zu Gott.“ (Giesbert Greshake) Christliche Spiritualität teilt sich in der Sorge Gottes um und für den Menschen; sie weiß sich noch nicht am Ziel, sondern im Geist und mit ihm unterwegs zum Menschen, dem Menschen Gottes, so Christian Schütz, Abt v. Schweiklberg)
Hildegard war als Benediktinerin von der Benediktusregel geformt. Ein Leben in der Gegenwart Gottes mit dem Auftrag des Gotteslobes forderte einen immer wieder neu vollzogenen Glauben, der genährt wurde in der Bibellesung, in der Feier der Liturgie. Die Spiritualität Hildegards fand den stärksten Ausdruck in ihren Schriften. Lassen wir drei Visionen aus Hildegards Kosmosschrift dem Liber divinorum operum zu uns sprechen.

Vision: Der Ursprung des Lebens

Ein schönes wundervolles Bild wie die Gestalt eines Menschen,
dessen Antlitz von großer Schönheit und Klarheit war
ein weiter goldener Reif um das Haupt der Lichtgestalt
in dem Reif über dem Haupt ein anderes Gesicht, wie das eines älteren Mannes, dessen Kinn und Bart den Scheitel des Hauptes berührten.
Von beiden Seiten des Halses der Gestalt ging ein Flügel aus,
diese Flügel erhoben sich über den Reif und verbanden sich dort miteinander.
In der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels der Kopf eines Adlers ( der Glanz der Engel wie in einem Spiegel)
In der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels das Antlitz eines Menschen (wie der Glanz der Sterne)
Von den beiden Schultern dieser Gestalt reichte ein Flügel bis zu den Knien.
In den Händen der Gestalt war ein Lamm.
Die Lichtgestalt trat mit ihren Füßen auf ein Ungeheuer in giftig schwarzer Farbe. Eine Schlange hatte sich in das rechte Ohr des Ungeheuers verbissen.
Gott, der alles erschaffen hat, hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht und in ihm die höheren und niederen Geschöpfe eingezeichnet.
Er hat ihn so geliebt, dass Er ihn für jenen Ort bestimmte, aus dem der Engel bei seinem Sturz geschleudert wurde und ihn in den Ruhm und in die Ehre eingesetzt, die jener verloren hatte.
Niemand wirkt so und hat soviel Macht wie Gott. Daher ist niemand Ihm gleich und Er ist nicht durch die Zeit begrenzt.
Die Seherin erblickt „im Mysterium Gottes“ eine Gestalt von wunderbarer Schönheit, im Geheimnis Gottes ein schönes wundervolles Bild wie die Gestalt eines Menschen, dessen Antlitz von so großer Schönheit und Klarheit war, dass Hildegard leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht. Obwohl die Seherin diese leuchtende Gestalt kaum schauen konnte, sah sie einen weiten goldenen Reif um das Haupt dieser Lichtgestalt. In dem Reif erschien über dem Haupt ein anderes Gesicht, wie das eines älteren Mannes, dessen Kinn und Bart den Scheitel des Hauptes berührten. Und von beiden Seiten des Halses derselben Gestalt ging ein Flügel aus. Diese Flügel erhoben sich über den Reif und verbanden sich dort miteinander. Den Kopf eines Adlers konnte Hildegard auf dem höchsten Punkt der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels erkennen. In den feurigen Augen des Adlers erschien der Glanz der Engel wie in einem Spiegel. Auf dem höchsten Punkt der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels war das Antlitz eines Menschen, das wie der Glanz der Sterne leuchtete. Beide Gesichter waren nach Osten gewandt. Von den beiden Schultern dieser Gestalt reichte ein Flügel bis zu ihren Knien. Hildegard erblickte ein Lamm in den Händen der Gestalt, die in ihrem Gewand wie die Sonne leuchtete, und das Lamm wie das Licht des Tages. Diese wunderschöne Lichtgestalt trat mit ihren Füßen auf ein Ungeheuer von abscheulichen Aussehen in giftig schwarzer Farbe und auf eine Schlange. Diese hatte sich in das rechte Ohr des Ungeheuers verbissen.
Die Liebe des himmlischen Vaters in ihrer Schönheit hat Menschengestalt, denn der Sohn Gottes hat Menschengestalt angenommen und durch den Dienst der Liebe den verlorenen Menschen erlöst. Diese schöne klare Lichtgestalt sprach:
„Ich, die höchste feurige Kraft, habe alle lebendigen Funken entzündet und nichts Sterbliches ausgehaucht. Indem ich mit meinen oberen Flügeln, d.h. mit der Weisheit, den Erdkreis umpflog, habe ich ihn in richtiger Weise geordnet. Ich, das feurige Leben der göttlichen Wesenheit, flamme über die Schönheit der Fluren, leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit dem Windhauch, dem unsichtbaren Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt nämlich im Grünen und im Blühen, die Wasser fließen, als ob sie lebten, auch die Sonne lebt in ihrem Licht.“
Hildegard kündet uns den Ursprung des Lebens, die schaffende Liebe Gottes, als feurige Kraft, die auch in den Winden verborgen ist; und sie brennen durch ihn, wie der Atem ständig den Menschen bewegt.
„Ich bin auch die Vernunft, hört sie den Urlebendigen sprechen, die den Windhauch des tönenden Wortes in sich hat, durch den jedes Geschöpf gemacht ist und in alles habe ich Leben gehaucht. Ich bin das volle Leben. Ich bin das gleichbleibende Leben in der Ewigkeit, das nicht entstanden ist und nicht endet.“ (LDO S. 20 21)
Gott offenbart sich in dieser Lichtvision als das Leben ohne Anfang und Ende. Und dieses Leben bewegt sich und wirkt und ist das eine Leben in dreifacher Kraft. „Die Ewigkeit wird der Vater genannt, das Wort der Sohn, und der Hauch, der beide verbindet, der Heilige Geist. Dieses eine Leben in dreifacher Kraft flammt über der Erde, über die Schönheit der Fluren, aus dem Gott den Menschen machte. Und Gott leuchtet in dem Wasser, das entspricht der Seele; denn wie das Wasser die ganze Erde durchströmt, so durchdringt die Seele den ganzen Leib. Der Mensch, der aus Leib, Seele und Vernunft ist, ist analog zur Erde, dem Wasser und zu Sonne und Mond gesetzt in seiner Vernunft. Der Urlebendige hat sich selbst in die Beziehung zu Luft und Wind, zu seiner gesamten Schöpfung gesetzt. Der säkularisierte Mensch heute hat seine Schwierigkeiten mit den Zusammenhängen und deren Konsequenz von Schöpfer, Schöpfung und Mensch. Danach können wir uns nicht mehr isoliert oder allein anschauen, denn wir sind von unserem Ursprung her auf die Verbundenheit von Schöpfer und Schöpfung verwiesen.
Hildegard hörte die Stimme vom Himmel, die zu ihr sprach: „Gott, der alles erschaffen hat, hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht und in ihm die höheren und niederen Geschöpfe eingezeichnet. Und er hat ihn so geliebt, daß er ihn für jenen Ort bestimmte, aus dem der Engel bei seinem Sturz geschleudert wurde und ihn in den Ruhm und in die Ehre einsetzte, die jener verloren hatte.“( S. 21) Der Mensch ist an die Stelle des gefallenen Engels gestellt als Abbild Gottes. Gott selbst ist das Leben in Fülle und die Liebe. Und die Liebe des Vaters hat Menschengestalt angenommen im Sohn, der durch seine Menschwerdung im Dienst der Liebe den verlorenen Menschen erlöste. Die überragende Liebe Gottes strahlt aus dem Angesicht der Gottesgestalt in Schönheit und Klarheit. Ein weiter goldener Reif umgibt das Haupt, das will auf den katholischen Glauben hinweisen, der sich über den ganzen Erdkreis ergießt und der mit aller Ehrfurcht das Übermaß der Liebe umfasst, in der Gott durch die Menschheit seines Sohnes den Menschen erlöste und im Heiligen Geist stärkte. Das Gesicht wie eines älteren Mannes in dem Reif über dem Haupt der Gottesgestalt bedeutet, dass den Gläubigen die alles überragende Güte Gottes zu Hilfe kommt. Das Kinn und der Bart des Gesichtes berühren den Scheitel des leuchtenden Antlitzes. Das will uns sagen, dass Gott in seinem Planen und Fürsorgen das Äußerste seiner Liebe darin zeigt, dass der Gottessohn in seiner Menschheit den verlorenen Menschen zum Himmel zurückführt.
Flügel zu beiden Seiten des Halses des Urlebendigen erheben sich über den Reif und verbinden sich dort. Sie stehen für die Gottes- und Menschenliebe, die aus der Einheit des Glaubens hervorgehen und nicht zu trennen sind. In der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels erblickte Hildegard gleichsam den Kopf eines Adlers mit feurigen Augen, in denen der Glanz der Engel wie in einem Spiegel erscheint. Wenn ein Mensch sich Gott unterstellt, sein Streben auf Gott richtet, sein Herz emporhebt, entbrannt vom Heiligen Geist, dann erscheinen darin die seligen Geister und bringen Gott die Hingabe dieses Herzens dar. Denn mit dem Adler werden die geistlichen Menschen bezeichnet, die in Hingabe ihres Herzens in der Betrachtung oftmals wie die Engel Gott schauen. Die seligen Geister, die Gott unablässig schauen, freuen sich an den guten Werken der Gerechten und zeigen sie Gott in sich selbst. Den Engeln, die im Lob Gottes verharren, ist ein Glanz wie von vielen Spiegeln eigen, in den sie schauen. „Niemand wirkt so und hat soviel Macht wie Gott. Daher ist niemand ihm gleich und Er ist nicht durch die Zeit begrenzt.“ (S. 23)
Alles, was Gott gewirkt hat, hatte er vor dem Beginn der Zeit in seinem Vorauswissen. Alles Sichtbare und Unsichtbare erschien vor aller Zeit wie Bäume oder Geschöpfe, die nahe am Wasser stehen und in diesem gesehen werden, obwohl sie nicht leibhaftig im Wasser vorhanden sind. Das Vorauswissen Gottes schaute jedes Geschöpf, bevor es in seinem Körper war. Im Menschen sind das Vorauswissen Gottes und sein Werk. (Geheimnis der Berufung, der Gnade und Freiheit des Menschen)
Als eine unzählbare Schar von Engeln aus sich selbst heraus sein wollten und ihren Schöpfer vergaßen, stürzten sie, Luzifer und sein Anhang, in die Finsternis.
Auf der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels ist gleichsam das Antlitz eines Menschen, das wie der Glanz der Sonne leuchtet. Das bedeutet, wenn der Mensch sich der Verteidigung seines Schöpfers zuwendet, indem er die irdischen Beweggründe, die ihn von links anfechten, in Demut zertritt, hat er das Aussehen eines Menschen., weil er seiner menschlichen Natur entsprechend in Würde lebt und nicht nach Art des Viehs. ( S. 25)
Der Mensch erhielt den Platz und die Ehre des gefallenen Engels, mit einem Leib umhüllt, damit er zum Lobe das vollende, was jener nicht tun wollte. Mit dem Menschenantlitz werden jene bezeichnet, die zwar mit dem Leib der Welt zugeordnet sind, aber mit dem Geist Gott beständig dienen. Sie vergessen nicht, was des Geistes ist, auch wenn sie an weltliche Verpflichtungen gebunden sind. Geistliche wie Weltliche müssen sich Gott zuwenden., deshalb sind die Gesichter nach Osten gewandt.
Von den beiden Schultern der Gestalt reicht je ein Flügel bis zu ihren Knien. Denn in der Kraft seiner Liebe hat der Sohn Gottes Gerechte und Sünder an sich gezogen, die einen auf die Schultern genommen, weil sie gerecht gelebt haben, die anderen auf die Knie, weil er sie vom Weg der Ungerechtigkeit zurückgerufen hatte. „Durch das Wissen der Liebe Gottes wurde der Mensch mit Leib und Seele zur Fülle des Heils geführt, obwohl er häufig vom Zustand der rechten Beständigkeit abweicht.“ (S. 26)
Die Gestalt ist mit einem Gewand bekleidet, das dem Glanz der Sonne ähnlich ist. Das bedeutet: Der Sohn Gottes hat in seiner Liebe den menschlichen Leib ohne jede Befleckung der Sünde in Ähnlichkeit zur Schönheit der Sonne bekleidet. Der Mensch kann die Menschheit des Gottessohnes nur durch den Glauben erfassen.
Und in ihren Händen trägt sie ein Lamm, leuchtend wie das Licht des Tages. Die Liebe in den Werken des Gottessohnes hat die Milde des Glaubens offenbart, die alles überstrahlt, als Er aus Zöllnern, Sündern Märtyrer, Bekenner, Büßer erwählte und als er aus Ungläubigen Gerechte machte. So hat die Liebe ihr Werk vollendet.
Die Gestalt tritt mit ihren Füßen auf ein Ungetüm von abscheulichem Aussehen und giftiger schwarzer Farbe und auf eine Schlange. Die wahre Liebe zertritt mit den Fußspuren des Sohnes Gottes das Unrecht, das durch viele Laster verdreht ist und die alte Schlange, die allen Gläubigen nachstellt.

Die geistige Botschaft der ersten Vision könnte so zusammengefasst werden:
Die Liebe, die im Rad der Ewigkeit und ohne Zeit ist, wie die Glut im Feuer, Gott, hat alle Geschöpfe vorausgewusst in seiner Ewigkeit und sie in seiner Liebe so hervorgebracht, dass der Mensch bei ihnen keine Erquickung oder keinen Dienst entbehrte, weil Er sie mit dem Menschen verband wie die Flamme mit dem Feuer.
Im Vorherwissen Gottes liegt die ganze Schöpfung und Heilsgeschichte. So leuchtet im Ursprung des Lebens, im Urlebendigen, der Liebe ist, alles auf, was Hildegard in einzelnen Visionen schauen durfte. In der ersten Vision ist diese Gesamtschau der Schöpfung und des Weges des Menschen enthalten. Die Schöpfung beginnt mit der Engelwelt. Denn als ersten „schuf Gott den Engel in der größten Schönheit.“ Und sobald er sich selbst erblickte, (sed ubi ille seipsum conspexit, dominum suum odio habuit et dominus esse voluit, sed Deus in puteum abyssi illum proiecit.) haßte er seinen Herrn und wollte selbst der Herr sein. Aber Gott warf ihn in den „Schach der Hölle“ (eine reale Möglichkeit für den Menschen, der seine ihm von Gott geschenkte Freiheit in Selbstbehauptung verschließt als Verweigerung der Liebe. Hölle eine angstmachende Wirklichkeit ist auch in unserer geschichtlichen Erfahrung gegeben.) Dieser Aufrührer gibt bis heute dem Menschen seinen bösen Rat, nachdem er den ersten Menschen, das Werk Gottes, in Gemeinschaft mit sich gebracht hatte. So hatte der Mensch sein himmlisches Gewand verloren. Durch den Sohn Gottes, „der in der Natur der Jungfrau Fleisch annahm,“ wurde der Mensch, das inniggeliebte Werk Gottes, in die Gemeinschaft Gottes zurückgeholt. Sowie Adam Stammvater des gesamten Menschengeschlechtes ist, so ist durch den Sohn Gottes das geistige Volk hervorgegangen. Jetzt gilt es, Gott mit aufrichtigem Seufzen des Herzens zu verehren. So kann die Gnade des Heiligen Geistes den guten Acker des Menschen durchtränken. „Wer gläubig der göttlichen Verheißung vertraut, auf alles Irdische hinabschaut und zum Himmlischen strebt, der wird als Gerechter unter die Söhne Gottes gezählt. Denn er liebte die Wahrheit und versuchte immer mehr an dem Geschmack zu haben, was des Geistes ist. „Solange der Mensch an dem Geschmack findet, was des Fleisches ist, kann er das, was des Geistes ist, nicht voll erfassen.“ (S. 30) Maria war der Geschmack von dem, womit die alte Schlange die erste Frau täuschte, unbekannt. Sie glaubte dem Wort des Gottesboten, sie blickte zur Erde, aus der sie geschaffen war, und sagte, sie sei die Magd des Herrn. Darum nahm der Sohn Gottes in ihr Fleisch an.

„Jeder Mensch, der Gott fürchtet und liebt, soll sich diesen Worten mit Hingabe seines Herzens öffnen, und er soll wissen, dass sie zum Heil des Leibes und der Seele des Menschen nicht von einem Menschen verkündet sind, sondern durch Mich, der Ich bin.“ (S. 31)
Wenn der Mensch sich dem Sinn seines Lebens stellt, seine Verwurzelung aus dem Urlebendigen erkennt und spürt, bleibt er lebendig , d.h. dann lebt er in Würde in den Beziehungen, in die er von Gott hineingestellt ist zur Verteidigung seines Schöpfers und Erlösers. Und so wird er heil an Leib und Seele und fähig für die Fülle des ewigen Lebens mit den Engeln und Heiligen.

Vision: Die Elemente im Bau der Welt

Ein Rad auf der Brust der schönen Gestalt
Ein Kreis von leuchtendem Feuer
Ein Kreis von schwarzem Feuer
Darunter ein Kreis aus reinem Äther
Ein Kreis aus wasserreicher Luft
Ein Kreis mit starker weißleuchtender Luft
Ein Kreis von dünner Luftschicht
In der Mitte des dünnen Luftkreises eine Kugel, die Erde
In der Mitte des Rades die Gestalt eines Menschen mit ausgebreiteten Armen
Vier Tierköpfe stehen für die Windkräfte im Kosmosrad:
Der Kopf eines Leoparden, eines Wolfes, eines Löwen, eines Bären
Sieben Planeten, sechzehn Hauptsterne und viele Sterne
Aus dem Mund der Gottesgestalt, auf deren Brust das Rad erschien, ging Licht wie Fäden aus. Alles wurde im rechten Maß abgemessen.
„Gott hat zur Ehre Seines Namens die Welt aus den Elementen zusammengefügt. Er hat sie mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und auch mit den übrigen Geschöpfen erfüllt.
In ihr hat Er den Menschen mit all diesem umgeben und ausgerüstet und ihn mit größter Kraft überall durchströmt, damit die gesamte Schöpfung ihm in allem beistehe und an seinen Werken teilhabe, so dass er mit ihnen wirkt. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen.“

In der zweiten Vision schaute Hildegard auf der Brust der gleichen schönen Gestalt ein Rad von wunderbarem Anblick mit seinen Zeichen, ähnlich dem Bild, das sie vor 28 Jahren in der Gestalt eines Eies als Sinnbild des Universums gesehen hatte.
An der Rundung des Rades zeigte sich außen ein Kreis von leuchtendem Feuer, unter diesem ein anderer Kreis von schwarzem Feuer. Der Kreis von leuchtendem Feuer übertraf an Dichte zweimal den schwarzfeurigen Kreis, doch waren diese beiden Kreise miteinander verbunden, als wären sie ein Kreis. Darunter war ein Kreis aus reinem Äther, von gleicher Dichte wie der Feuerkreis. Unter dem Kreis von reinem Äther zeigte sich ein anderer aus wasserreicher Luft., darunter erschien ein weiterer Kreis mit starker weißleuchtender Luft, die in ihrer Härte wie eine Sehne im menschlichen Körper ähnelte. Diese beiden Luftkreise waren so miteinander verbunden, dass sie als ein Kreis erschienen. Unter dem Kreis von starker weißleuchtender Luft war eine andere dünne Luftschicht bezeichnet, die bisweilen hohe lichte Wolken und dann wieder tiefhängende dunkle Wolken empor zu tragen und über das ganze Rad auszudehnen schien. All diese sechs Kreise waren ohne jeden Zwischenraum miteinander verbunden. Der äußerste Kreis durchströmte mit seinem Feuer die übrigen Kreise; der mit der wasserreichen Luft benetzte alle anderen mit seiner Feuchtigkeit. In der Mitte des dünnen Luftkreises war eine Kugel ringsum im gleichen Abstand von der starken weißleuchtenden Luft zu sehen. In der Mitte des Rades erschien die Gestalt eines Menschen mit ausgebreiteten Armen, dessen Scheitel oben und dessen Fußsohlen unten bis zu dem Kreis der starken, weißleuchtenden Luft reichten. Vier Tierköpfe, die für die Windkräfte im Kosmosrad stehen, erschienen in Richtung der 4 Seiten. Über dem Scheitel der Gestalt war im Kreis des reinen Äthers der Kopf eines Leoparden, der aus seinem Maul einen Hauch ausstieß. Unter den Füßen der Menschengestalt im Kreis der wasserreichen Luft erschien der Kopf eines Wolfes. Im Kreis des leuchtenden Feuers war zur Rechten der Gestalt ein Löwenkopf, zur Linken im Kreis des schwarzen Feuers der Kopf eines Bären. Alle diese Köpfe hauchten auf das beschriebene Rad und die Menschengestalt zu. Über dem Kopf des Menschen waren in der Höhe getrennt voneinander sieben Planeten bezeichnet, 3 im Kreis des leuchtenden Feuers, einer im schwarzen Feuerkreis, 3 im Kreis des reinen Äthers. Unter den Füßen der Gestalt erschien die Sonne, die ihre Strahlen aussendet auf die Tierköpfe, den Mond und den Menschen wie auch die Planeten. 16 Hauptsterne im leuchtenden Feuerkreis richten ihre Strahlen teils zur dünnen Luft, teils auf das schwarze Feuer. Auch der Kreis des reinen Äthers und der Kreis der starken weißleuchtenden Luft waren gleichsam voll von Sternen, die ihren funkelnden Schein zu den gegenüberliegenden Wolken schickten. Die Gestalt war in diese Zeichen verflochten und umgeben. Von dem Mund der Gottesgestalt, auf deren Brust das Rad erschien, schaute Hildegard Licht wie in Fäden ausgehen, strahlender als das Licht des Tages. Durch diese wurden die Kreise und übrigen Figuren im Rad und die einzelnen Glieder der Menschengestalt im rechten und genauen Maß abgemessen.
Und wieder hörte Hildegard eine Stimme vom Himmel: „Gott hat zur Ehre Seines Namens die Welt aus den Elementen zusammengefügt. Er hat sie mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und auch mit den übrigen Geschöpfen erfüllt.
In ihr hat Er den Menschen mit all diesem umgeben und ausgerüstet und ihn mit größter Kraft überall durchströmt, damit die gesamte Schöpfung ihm in allem beistehe und an seinen Werken teilhabe, so dass er mit ihnen wirkt. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen.“ (S. 40)
Dies wird in dieser Vision gezeigt.
Die Gestalt der Welt existiert in Gott, im Wissen der wahren Liebe. Der Urlebendige trägt sie auf seiner Brust. Er umarmt sie, so existiert die Gestalt der Welt unaufhörlich kreisend und wunderbar, sie wird nicht durch Alter verbraucht, auch nicht durch Neues vermehrt. Wie der Kosmos am Anfang von Gott geschaffen wurde, so wird er bis zum Ende der Zeiten bleiben. Die Gottheit ist in ihrem Vorauswissen und in ihrem Werk vollkommen wie ein Rad, sie hat weder Anfang noch Ende, sie umfasst unbegrenzt alles und übertrifft alles, weil niemand sie in Ihrer Macht zerteilen noch übertreffen, noch an eine Ende bringen kann.
In der Vision des Kosmosrades wird der Umlauf und das rechte Maß der Elemente gezeigt, die Gestalt der Welt in der Kugel.
Das Element Feuer erscheint zuerst im äußeren Kreis des Rades. Es erleuchtet und durchdringt alle Geschöpfe und bringt ihnen die Freude seines Lichtes. Es versinnbildlicht die Macht Gottes, der über allem steht und das Leben gibt. Der darunter liegende schwarze Feuerkreis zeigt, dass jeder, der sich Gott entgegenstellt, in den Zustand des Dunkels, des Gerichts gestürzt wird. Die Macht und das Gericht Gottes sind nicht zu trennen, wie die Feuerkreise. Der darunter liegende reine Äther umschließt mit seiner Rundung die ganze Welt. Er hält den oberen und unteren Bereich zurück, damit sie ihre Grenzen nicht überschreiten. Er weist auf die reine Reue der Sünder hin. Der Mensch soll auf die Macht und das gerechte Urteil Gottes schauen und aufrichtig und in würdiger Weise bereuen.
Der sich anschließende Kreis der wasserreichen Luft weist auf die heiligen Werke der Gerechten hin, die klar wie Wasser sind und unreine Werke reinwaschen. Der Kreis der starken weißleuchtenden Luft hält ähnlich wie eine Sehne mit seiner Kraft und Zähigkeit Überschwemmungen aus der wasserreichen Luft zurück. Dies weist auf die
Unterscheidungskraft, die discretio hin, die heilige Werke durch Mäßigung stärkt, sie in ihrem Maß hält. Die dünne Luftschicht unter dem Kreis der starken weißleuchtenden Luft weist darauf hin, dass sie aus den oberen Kreisen und Elementen wie ausgeatmete Luft hervorgeht. Diese Luft trägt hohe lichte Wolken und tiefhängende dunkle Wolken empor und sie dehnt sich über das ganze Rad aus, weil alles, was auf der Welt ist, von ihr belebt und gestützt wird.
Das zeigt auch, dass unter dem Schutz der Unterscheidungskraft die wahre Sehnsucht des gläubigen Menschen aus den höheren Tugendkräften und den Stärkungen durch den Heiligen Geist hervorgegangen ist.
Sowie die sechs Elementenkreise ohne jeden Zwischenraum miteinander verbunden sind, so sind die Tugenden (Reue, Unterscheidung, rechte Einsicht, Sehnsucht) im gläubigen Menschen durch die Eingebung des Heiligen Geistes miteinander verbunden. In der Ordnung der Elementenkreise und ihrem Wirken erkennt Hildegard eine Weisung für den gläubigen Menschen, der durch die Macht und Gnade Gottes geheiligt wird. Die Werke der Gläubigen preisen dann die Güte des Schöpfers. Wer Gott treu anhängen will, wird sich bemühen, das zu vermeiden, was die Seele verletzt. Er muß vor dem Satan fliehen aus dem linken Bereich und in diesem Kampf standhalten. Dann erhält er Gemeinschaft mit dem Eckstein, mit Christus.

In der Mitte des dünnen Luftkreises ist eine Kugel, die die Erde darstellt. Sie steht in der Mitte der Elemente, damit sie von allen ins richtige Maß gebracht wird. Daher empfängt sie fortwährend Lebenskraft, viriditas und Stärkung. Die Erde versinnbildlicht das tätige Leben, das bei den gläubigen Menschen maßvoll ist in den geistlichen Pflichten und in den leiblichen Bedürfnissen. Denn die die Discretio lieben, richten all ihr Tun nach dem Willen Gottes.

In der Mitte des Rades, in der Mitte des Weltenbaus, steht der Mensch. Er ist mächtiger als die übrigen Geschöpfe; von Gestalt zwar klein, aber groß durch die Kraft seiner Seele. Seinen Kopf richtet er nach oben, seine Füße nach unten und bewegt so die oberen und unteren Elemente. Ebenso durchdringt er sie mit den Werken, die er mit seiner rechten und seiner linken Hand bewirkt, weil er in den Kräften seines inneren Menschen diese Macht zu wirken hat. Wie nämlich der Leib des Menschen, sein Herz an Größe übertrifft, so übertreffen auch die Kräfte der Seele den Leib des Menschen mit ihrer Kraft. Und wie das Herz des Menschen in seinem Leib verborgen ist, so ist auch sein Leib von den Kräften der Seele umgeben, denn sie erstrecken sich über den ganzen Erdkreis. Denn wie der Mensch mit seinen leiblichen Augen überall die Geschöpfe sieht, so sieht er im Glauben überall Gott und erkennt Ihn durch die Geschöpfe, weil er einsieht, dass Er ihr Schöpfer ist. (S. 49)
Die vier Hauptwinde an den vier Seiten des Weltalls ahmen in ihren Kräften die Tiere nach; sie bedeuten für den Menschen, dass er von vielen Versuchungen bedroht ist. Die Winde (Tierköpfe), die auf das beschriebene Rad und die Menschengestalt hauchen, bringen mit ihrem Blasen die Welt ins Gleichgewicht und bewahren durch ihren Dienst den Menschen zu seinem Heil. Weder die Welt würde bestehen noch der Mensch könnte leben, wenn sie nicht durch das Wehen dieser Winde belebt würden. (S. 51) Wenn ein Wind naturgemäß oder nach Gottes Anordnung sein Blasen ausstößt, durchdringt er den Leib des Menschen. Die Seele nimmt ihn auf und führt ihn auf natürliche Weise zu den Organen des Leibes, die seiner Natur entsprechen. So wird der Mensch durch das Wehen der Winde (Hauptwinde und Seitenwinde) entweder gekräftigt oder geschwächt. (S. 65) Die Winde rufen auf eine Weise mit gleichem Eifer der Aushauchungen ihrer Kräfte den Menschen zur Seligkeit auf. Eine Tugend geht beim richtigen Handeln aus der anderen hervor. Und all diese Köpfe, d.h. diese Tugenden (Reue, die Zerknirschung, Vertrauen (Kopf des Krebses), Hoffnung, Glaube (Kopf des Hirsches stellt den Glauben dar), Beständigkeit der Gottesfurcht, Heiligkeit) sind im Wissen Gottes und stehen dem Menschen sowohl in seinen leiblichen, als auch in seinen geistigen Bedürfnissen bei. „Wenn der Mensch die Lebenskraft, viriditas, der Tugenden verlässt und sich der Dürre der Gleichgültigkeit zuwendet, so dass er ohne den Lebenssaft und die Lebenskraft der guten Werke ist, ermatten die Kräfte seiner Seele und verdorren. Wird er aber von der Ausschweifung der Begierden wie von einer übermäßigen Überschwemmung zu sehr überflutet, dann wird sein Geist entkräftet, weil er auf schlüpfrigen Wegen geht.“ ( S. 52 / 53)
„Indem die Winde auf die Weisung Gottes achten, treiben sie die Menschen mit der Kraft ihrer Tugenden an, den Willen Gottes zu erfüllen.“ (S. 56)
„Wer die Lebenskraft, viriditas, des Heiligen Geistes nicht hat, erstickt im Unglauben, verbraucht sich in schlechten Taten und läuft in den Pfuhl der Hölle, weil er sich nicht bemüht hat, sich der Gnade Gottes anzuvertrauen. Wer nicht auf Gott vertraut und nicht darauf achtet, auf welche Weise er von Gott geschaffen ist, sondern Ihm Vorwürfe macht, als ob Er an seinen Sünden schuld sei, der will auch nicht den Aufgang und Untergang der Sonne, des Mondes und der Sterne, die Gott in den Himmel gesetzt hat, noch den Wind mit der Luft, noch die Erde mit den Gewässern und den übrigen Geschöpfen betrachten. Das alles hat Gott des Menschen wegen erschaffen, damit er in all dem erkennt, zu welch großer Würde er erschaffen ist.“ (S. 57) Wie die Winde den Erdkreis mit ihren Kräften halten, so lassen sie auch durch ihre Dienste den Menschen wissen und einsehen, was er tun soll. (S. 60) Sie treiben den Menschen mit ihren Kräften dazu an, mit Leib und Seele seinem Schöpfer treu anzuhängen. (S. 66)
Im Kosmosrad wirkt nicht nur das Windsystem auf den Menschen ein, sondern auch die sieben Planeten mit Sonne und Mond in den Feuer- und Ätherkreisen. Mit ihren Strahlen tragen sie sich gegenseitig in ihrem je eigenen Maß. Die Sonne ist der größte Planet. Sie erwärmt und stärkt mit ihrem Feuer das gesamte Firmament und erleuchtet mit ihrem Glanz den Erdkreis. Sie gibt dem Leib des Menschen von oben bis unten, vom Gehirn bis zur Ferse, Kraft und das richtige Verhältnis. Sie stärkt vor allem das Gehirn, so dass es durch den Verstand voller Lebenskraft alle Körperkräfte zusammenhält, mit den Sinneswahrnehmungen alle Eingeweide durchströmt, so wie die Sonne die Erde erleuchtet. Auch vom Mond leuchtet ein Strahl über die Augenbrauen und Fußknöchel des Menschen im Kosmosrad. Der Mond mäßigt mit seiner natürlichen Kraft den Leib des Menschen und mahnt den Menschen aus der Gottesfurcht heraus, die Schärfe seines Verstandes zu hüten, um nicht in Blindheit der Seele zu fallen. (S: 79) Sonne und Mond dienen nach göttlicher Anordnung dem Menschen und bringen ihm entweder Gesundheit oder Krankheit. „Wenn der Mond im Zunehmen ist, vermehren sich Gehirn und Blut im Menschen; wenn der Mond im Abnehmen ist, vermindern sich Gehirn und Blut im Menschen. Ist der Mond im ausgewogenen Maß , so hat der Mensch im Gehirn und im Kopf Gesundheit und in der Sinneswahrnehmung Lebenskraft, weil durch die richtige Mischung der äußeren Elemente die Säfte im Menschen in Ruhe sind. Ohne Mäßigung und den Dienst der Elemente könnte der Mensch nicht leben.“ (S.73 / 74) Und dies alles bezieht sich auch auf das Innere der Seele.
Die sieben Planeten versinnbildlichen, dass die sieben Gaben des Heiligen Geistes allen Verstand des Menschen überragen (durch all drei Weltzeiten : vor dem Gesetz, im Gesetz, im Evangelium). (Die Gabe der Weisheit, der Stärke, der Gottesfurcht, des Verstandes, der Geduld, der Gerechtigkeit, des Rates, der Klugheit, der richtigen Unterscheidung, der Frömmigkeit)
Die 16 Hauptsterne im leuchtenden Feuerkreis sind in gleichmäßigem Abstand voneinander angeordnet, damit sie das Firmament gleichmäßig mit ihren Kräften unterstützen. Sie stehen auch für die geistlichen Lehrer und die acht Seligpreisungen.
Die Sterne im reinen Äther und in der starken weißleuchtenden Luft erwärmen und stärken das Firmament. Mit ihre Strahlen durchströmen sie die Wolken unter der starken weißleuchtenden Luft, durchdringen sie und halten sie fest, damit sie nicht die von Gott gesetzten Grenzen überscheiten. Die Sterne bedeuten auch, dass die wahre Reue und die Unterscheidungskraft der heiligen Werke im Glanz der Vernunft erblühen. „Durch ihren Glanz machen sie den Geist der Gläubigen vernünftig, weil sie ihnen eingeben, dass alle werke, die sie vollbringen, vor Gott vernünftig erscheinen.“ (S. 85)
Auf diese Weise ist der Mensch in diese Zeichen verflochten und umgeben. „Der Mensch ist durch die Kraft der Elemente und die Unterstützung der übrigen Geschöpfe so gestärkt und geschützt, dass er durch keinen Anprall einer Widerwärtigkeit aus seinem Zustand herausgerissen werden kann, solange ihn die göttliche Macht behütet.“ (S. 84)
Der gläubige Mensch, der treu den Spuren des Gottessohnes folgt, ist durch die Strahlkraft der Tugenden geschützt und ausgerichtet. (S. 86)
Hildegard schaute, dass von dem Mund der Gestalt, auf deren Brust das Rad erschien, Licht wie Fäden ausging, strahlender als das Licht des Tages. Denn aus der Kraft der wahren Liebe, in deren Wissen der Weltumlauf ruht, geht ihre feine Ordnung hervor. Sie leuchtet über alles, umschließt alles und festigt alles. Durch diese Fäden sind die Kreise, die Winde, Planeten, Sterne, die Wolken, die Menschengestalt in richtigem und genauem Maß gemessen. Durch dieses Licht unterscheidet die Liebe die Kräfte der Elemente und den übrigen Schmuck am Himmel, die zur Festigung und Zierde der Welt dienen. Aus der wahren göttlichen Liebe kommt auch das Gute. Alles wägt sie mit richtigem Urteil: die Verdienste, die aus der Sehnsucht nach dem Himmel und den geistlichen Stoßseufzern durch göttlichen Antrieb kommen, ebenso die Werke des Menschen, die er um Gottes willen vollbracht hat. Im Menschen tobt ein heftiger Kampf, denn das Fleisch ergötzt sich an Sünden und die Seele dürstet nach Gerechtigkeit. „Lebt der Mensch nach der Sehnsucht seiner Seele, so verleugnet er sich aus Liebe zu Gott und macht sich zu einem Fremdling bei den Begierden des Fleisches.“ (S. 89)
Auch die 2. Vision endet mit der Einladung Gottes: Jeder Mensch, der Gott fürchtet und liebt, soll sich diesen Worten mit der Hingabe seines Herzens öffnen, und er soll wissen, dass sie zum Heil des Leibes und der Seele der Menschen nicht von einem Menschen verkündet sind, sondern durch Mich, der Ich bin.

Welche spirituelle Botschaft kommt uns aus dieser Vision entgegen?
Die göttliche Liebe, Gott selbst, trägt den Kosmos als Riesenrad in seiner Brust. Mit den Lichtfäden aus seinem Mund durchströmt er alles, ordnet alles und hat jedem Element, den Winden, Planeten, Sternen, Geschöpfen, dem Menschen sein Maß gegeben und alles aufeinander bezogen. Die Gestalt des Menschen ist in das Ganze des Kosmos eingeästet, sie ist berührt und durchströmt von den Kräften der Winde, Planeten und Sterne und sie wirkt mit und in den Elementen. Denn der Mensch steht mitten im Weltenbau mit ausgebreiteten Armen, berufen zum Wirken mit und in der Schöpfung. Die Kräfte der Seele, die den Leib des Menschen mit ihrer Kraft übertreffen, können sich über den ganzen Erdkreis erstrecken. Und die Schöpfung soll an seinen Werken teilhaben und ihm in allem beistehen. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen. In allem Tun soll der Mensch Gott fürchten, d.h. in einer ehrfürchtigen Beziehung als Geschöpf Gottes in dem Lebensraum der Schöpfung leben und in lauterer Gesinnung den Urheber allen Seins verehren. Denn der gottesfürchtige und gläubige Mensch hat sein Dasein im Wissen Gottes; er lebt in einer lebendigen Beziehung zu seinem Gott. Bei Erfolg oder Misserfolg seiner Handlungen seufzt er zu Ihm auf und bleibt in der Haltung der Hingabe. Denn er sieht im Glauben überall Gott und erkennt ihn durch die Geschöpfe. Die Eingebundenheit des Menschen in den Kosmos, die der Mensch gerade auch immer wieder besonders in dem Windsystem und durch die Planeten erfährt, rufen ihn zur Verantwortung in der Schöpfung auf und zeigen ihm sein Angewiesensein auf die „virtutes“, auf die Tugendkräfte aus Gott. In dieser Kosmosvision geht es auch um das Handeln des einzelnen Menschen und seinen Weg zum Heil, der sich im Lebensraum der Schöpfung befindet. Und wie der Mensch mit der Natur verwoben ist, so ist er auch mit seinem Schöpfer und Erlöser verbunden. Der Mensch kann nicht ohne die Schöpfung und nicht ohne den Schöpfer leben. Heil, Zukunft finden die Menschen nur in einem persönlichen Gottesbezug.
In dem komplizierten Ineinander von Gotteskräften im Kosmosrad ist die Grundsituation des Menschen nach Hildegard einfach: er kann sich in dieses Bezugsfeld hineinbegeben, indem er sich auf Gott ausrichtet oder er wendet sich von ihm ab und liefert sich damit den Mächten des Bösen aus. Dies ist aber keine einmalige Entscheidung. In der Spannung und Auseinandersetzung bleibt der Mensch im zeitlichen Leben. Mit Hilfe der sieben Geistesgaben und der entsprechenden Gotteskräften kann der Mensch sein Heil erreichen, das ewige Leben mit der erneuerten Schöpfung.

 

 

10. Vision: Die Liebe Gottes

Ein Rad von erstaunlichem Umfang, es weist auf Gott hin,
der ohne Anfang und ohne Ende ist.
Eine dunkle Linie teilte es quer in der Mitte, sie trennt Ewiges und Zeitliches.
Eine rötlich schimmernde Linie zeigt die göttliche Ordnung.
Ein grünes Feld in der oberen Radhälfte von links zur Mitte steht für die Schöpfung, für die viriditas
Ein rotes Feld in der oberen Radhälfte von rechts bis zur Mitte steht für das gewandelte Leben aus der Vergänglichkeit in Gott.
Die untere Radhälfte zeigt ein fahles, von schwarz untermischte Farbe, die vergänglichen Zeiten der Welt, die Zeitlichkeit.
In der Mitte des Rades sitzt eine Gestalt, die Liebe, „caritas“.
Ihr Gesicht leuchtet wie die Sonne, um ihren Hals eine goldene mit Edelsteinen geschmückte Kette.
Die Gestalt blickte auf eine Tafel (das Vorauswissen Gottes). Damit bewegte sich die Linie, auf er sie saß. So entstanden auf Gottes Geheiß Himmel und Erde und die übrigen Geschöpfe.
Mit verschiedenen Feldern im unteren Rad werden die einzelnen Zeitabschnitte der Menschheit angedeutet.
Wasser, Zeit der Sintflut
Glühend rotes Feld, Zeit der Gerechtigkeit (Abraham, Moses, Propheten)
Klares leuchtendes Feld, Zeit der Menschwerdung des Sohnes Gottes
Dunkles Feld, Zeit des Glaubensabfalls, des Antichristen
In Gottes Willen und in seiner Macht liegt es, wann er die Welt und was in der Welt ist, beenden wird.
Gott ist im Kreisen Seiner Liebe mitten in der Schöpfung, in Zeit und Ewigkeit.

Hildegard schaute wieder ein Rad von erstaunlichem Umfang, das Ähnlichkeit hatte mit einer leuchtend weißen Wolke und nach Osten gewandt war. Es weist auf Gott hin, der ohne Anfang und ohne Ende ist, aber milde in seinen Werken. Eine dunkle Linie wie der Atem eines Menschen teilte es quer in der Mitte, von der linken zur rechten Seite, das bedeutet, dass Gott Ewiges und Zeitliches getrennt hat. Auf der Mitte dieses Rades oberhalb der Linie zeigte sich eine andere Linie, rötlich schimmernd wie das Morgenrot. Sie führte vom oberen Rand des Rades bis zur Mitte der dunklen Linie herab. Dadurch wird die Göttliche Ordnung gezeigt, die auf alles Gute gerichtet und vollkommen ist. Der obere Teil der Radhälfte sandte von links bis zur Mitte grüne Farbe aus, die Schöpfung steht in der Lebenskraft, viriditas, des Willens Gottes. Und von der rechten Seite bis zur Mitte leuchtete so etwas wie rote Farbe. Dieses Feld steht für das gewandelte Leben, d.h. Gott wandelt nach dem Ende der Welt das, was von der vergänglichen Zeit zum Leben emporgehoben werden soll, zum Besseren. Beide Farben sind auf gleiche Flächen verteilt. Denn wie die Ewigkeit vor dem Beginn der Welt keinen Anfang hatte, so hat sie auch nach dem Ende der Welt kein Ende, sondern Anfang und Ende der Welt werden gleichsam von dem einen umfassenden Kreis umschlossen.
Die Radhälfte, die quer unterhalb der erwähnten Linie ist, zeigt eine fahle, von Schwarz untermischte Farbe. Sie bezeichnet die vergänglichen Zeiten der Welt, die Anfang und Ende haben. Über sie herrscht die Ewigkeit. Solange die Welt dauert, trägt sie schwer, bald an der Blässe der Ängste, bald an der Schwärze der Drangsale.
In der Mitte dieses Rades sah Hildegard auf der dunklen Linie, die Ewiges und Zeitliches trennt, die Gestalt sitzen, die ihr als die Liebe, „caritas“, bezeichnet worden war. Das bedeutet, dass die Liebe mit dem Willen Gottes im Ruhen verbunden ist. Ihr Antlitz leuchtete wie die Sonne, ihr Gewand glänzte wie Purpur, um ihren Hals hatte sie eine goldene Kette, die mit Edelsteinen geschmückt war, und sie trug Schuhe, die wie Blitze strahlten.
Ihr Gesicht leuchtet wie die Sonne, weil sie den Menschen mahnt, jede Absicht seines Herzens auf die wahre Sonne zu richten. Ihr Gewand glänzt wie Purpur, damit sich der Mensch aus dem Herzen der Barmherzigkeit ein Gewand macht und jeden, der ihn bittet, zu Hilfe kommt, soweit er kann. Sie hat um ihren Hals eine goldene Kette mit Edelsteinen geschmückt. Das ist ein Wink für den Menschen, das Joch des Gehorsams aufzunehmen und es mit seligen Tugenden zu schmücken, so dass er sich in allem erniedrigt und zeigt, das er Gott so wahrhaft unterworfen ist, wie der Sohn Gottes seinem Vater bis zum Tod gehorchte.
Auch trägt die Liebe Schuhe, die wie Blitze strahlen, damit alle Wege des Menschen im Licht der Wahrheit liegen und der Mensch den Spuren Christi folgt und so den anderen ein Beispiel der Rechtschaffenheit gibt. (LDO S. 409)
Vor dem Antlitz dieser Gestalt erschien eine Tafel, (das Vorauswissen Gottes) strahlend hell wie Kristall mit der Aufschrift, dass nichts, was einem Anfang unterworfen ist, die Gottheit, die ohne Anfang ist, völlig begreifen kann. Denn im Anblick der Liebe wird das Vorauswissen Gottes offenbart, weil die Liebe und das Vorauswissen völlig übereinstimmen. Es offenbart, dass der Mensch, der der Liebe unterworfen sein will, mit ihr liebt, was in Gott ist. Er schaut Gott in der Reinheit des Glaubens an und zieht Ihm nichts vor, was vergänglich ist. Damit errichtet er sich einen Platz in den himmlischen Freuden, da Gott vorausgesehen hat, dass er dorthin gelangen wird. Und die Gestalt blickte auf die Tafel. Dadurch bewegte sich die Linie, auf der sie saß. Als die Liebe Gottes sein Vorauswissen anblickte, in dem alles erschien, was in den Geschöpfen zukünftig war, (da die Geschöpfe, die geschaffen werden sollten, noch nicht waren), bewegte sich der Wille Gottes, mit dem die Liebe in Ruhe verbunden ist, zur Erschaffung der Geschöpfe. Und so entstanden auf Gottes Geheiß Himmel und Erde und die übrigen Geschöpfe, die auf ihr sind. (S. 410)
Nach den anderen Geschöpfen, sagt Hildegard, schuf Gott den Menschen, damit er alles, was er brauchte, für sich vorbereitet fand, und erleuchtete ihn mit dem lebendigen Geisthauch. Er rüstete ihn mit Feuer und Flamme aus, d.h. der Mensch ist Feuer in der Seele und Flamme in der Vernunft. Die Flamme der Vernunft weiß, wo sie durch den Kuß des Auswählens wirken soll, das ist die Erkenntnis von Gut und Böse. Diese beiden Kräfte, Feuer und Flamme, Seele und Vernunft, legte Gott in das irdene Gefäß des Leibes des Menschen, damit der Mensch wirke, was für ihn nützlich ist. Wie das Feuer die Flamme in sich enthält, so hat der vernunftbegabte Mensch Kräfte zum Wirken.
„Und Gott ist Feuer und lebendiger Geist. Er hat das große Werk geschaffen, aus dem sein Sohn sein Gewand nahm, durch das er seine Gottheit verbarg und sehr viele Wunder wirkte. In Ihm ist Er auch durch die Welt gegangen, bis Er die zehnte Zahl (das Menschengeschlecht), die verloren war, an sich zog.“ (S. 411) Der Mensch aus Feuer (Seele) und Flamme (Vernunft) ist immer wieder eingeladen, zu seinem Schöpfer aufzuschauen und zu sprechen: Du bist mein Gott! Im Feuer des Heiligen Geistes kann der Mensch seine Lobpreisungen entzünden, „um sie zu vermehren wie die Funken des Feuers vermehrt werden.“ (S. 411) Der vernunftbegabte Mensch wünscht, ersehnt etwas, danach bewirkt er etwas. (Das unvernünftige Tier richtet sich nach seiner Naturanlage.) Der Mensch aber wohnt durch den Glauben bei Gott. Nachdem wir von der schaffenden Liebe Gottes gehört haben und damit auch über den Menschen, lassen wir uns in der Vision der hl. Hildegard weiterführen.
Im oberen Teil des Rades wurde uns das geschaffene Leben, das Wirken Gottes im Vorauswissen Gottes aus der Ewigkeit heraus vor Augen gestellt in den Feldern grün und rot. Im unteren Teil des Rades werden wir mit der Zeitgeschichte und Menschheitsgeschichte im gesamten Ablauf der Zeiten konfrontiert.
Mit den verschiedenen Feldern im unteren Rad werden die einzelnen Zeitabschnitte der Menschheit angedeutet. Sie leuchten auf, wenn die Gestalt der Liebe auf das Vorauswissen Gottes in der Tafel schaut und die Linie sich bewegt. Den äußeren Teil der unteren Radhälfte schaute Hildegard für kurze Zeit wie Wasser. Gott kündet: „Nachdem sich Mein Wille mit Meiner Macht zur Schöpfung verbunden und die Geschöpfe hervorgebracht hatte, zeigten sich die Urteile Meiner Macht in der Sintflut beim Ausgießen der Wassermassen. (Welch eine Souveränität Gottes kommt hier zur Sprache!) Denn als der erste Mensch Kinder zeugte, versank deren Nachkommenschaft immer mehr in das Böse.“ (S. 411 / 412) Das sich anschließende glühend rote Feld kündet von der Zeit nach der Sintflut mit Noach , mit dem das Bauwerk der Gerechtigkeit entstand. Die Röte der Gerechtigkeit leuchtete in der Beschneidung bei Abraham auf, weiter in der Gesetzgebung des Mose und durch die Propheten. In den verschiedenen Generationen rissen Menschen in ihren Werken den Glanz der Gottesfurcht an sich. Klar und leuchtend wurden die Zeiten mit der Menschwerdung des Gottessohnes. “Gott, der Vater, der weder Anfang noch Ende hat, sandte in der Fülle der Zeit, die von Ewigkeit her bestimmt war, seinen Sohn zur Erlösung des verlorenen Menschen auf die Erde.“ (S. 412) Vor der Geburt des Sohnes Gottes war alles gleichsam in einer Finsternis, die er nach seiner Menschwerdung wie die Sonne erleuchtete. Der Heilige Geist, der den Schoß der Jungfrau befruchtet hatte, war in Feuerzungen über die Jünger des Gottessohnes gekommen und wirkte in ihren Nachfolgern, eine kräftige (männliche) leuchtende Zeit.
Danach nahm die Grünkraft, die Kraft des Heiligen Geistes in den Menschen ab, in der folgenden weibischen Zeit (Zeit der hl. Hildegard) tat jeder Mensch, was ihm gefiel. Schlechte Mietlinge, ungerechte Tyrannen, die Gier nach Geld herrschten. Gott hatte eingegriffen mit vielen Heimsuchungen, durch Strafen, mit schwerer Krankheit, weil sie nicht von ihrer unruhigen Lebensweise ablassen wollten.
Hildegard hörte Gott sprechen: „Durch die Schöpfung, die ich zum Nutzen des Menschen geschaffen habe, werden die Menschen oft gerichtet. So werden sie durch Feuer und Wasser erstickt, durch den Wind und die Witterung wird ihnen die Frucht der Erde genommen. Sonne und Mond zeigen sich nicht in richtiger Weise, weil sie ihre Bahnen nicht einhalten, wie sie von Gott angeordnet wurden.
So werden jene Tage ihren Lauf mit den wüsten Sitten der Menschen füllen, die Blut vergießen, jede ehrenhafte Einrichtung der Kirche zerstören, die goldenen Gerechtigkeit verfälschen.“ (S. 418)
Die kirchlichen Einrichtungen (Die Kirche sollte immer leuchtend und unwandelbar vor Gott stehen) werden allmählich zerfallen. Die Kirche klagt: Meine Krone ist durch die Spaltung des irrenden Geistes verdüstert, weil jeder sich nach seinem Willen sein Gesetz macht. Für die Heilige Schrift sind sie taub, sie hören nicht auf sie und lehren sie nicht. So herrscht Überdruß in allen Ständen. (S. 427)
Hildegard hörte drei Reden des Menschensohnes und eine ausdrückliche Bitte des Sohnes Gottes an den Vater um Schonung der Menschen in der Heilsgeschichte. Der Sohn Gottes leidet selbst an seinem Leib an Erschöpfung, weil seinen Kleinen schwach werden. Er zeigt dem Vater seine Wunden. Seine Glieder verursachen ihm Leid, weil sie in ihrer Bosheit gegen ihn ausschlagen.
Die Heilsgeschichte zeigt ein Auf und Ab von innerer Erneuerung und Irrlehren im Glaubensabfall. Die Menschen vergessen ihren Schöpfer und wenden sich von der reinen Lehre der Kirche ab. Dies zeigt das dunkle Feld in der unteren Radhälfte, das wie ein unruhiges und stürmisches Unwetter ist. In Gottes Willen und in seiner Macht liegt es, wann er die Welt und was in der Welt ist, beenden wird. „Die Menschen jener Zeit werden die Reinheit und Beständigkeit des wahren Glaubens fliehen und sich vom wahren Gott lossagen, indem sie sich dem Sohn des Verderbens zuwenden. Dieser wird alle kirchlichen Einrichtungen in Verwirrung bringen und über die Gläubigen, die ihm widerstehen, die stärksten Stürme der Widerwärtigkeiten losbrechen lassen.“ (S. 447)
„Im katholischen Glauben der Christen werden so große Zweifel und Verunsicherung herrschen, dass die Menschen zweifeln, wen sie als Gott anrufen sollen. In jener Zeit wird so große Traurigkeit die Menschen befallen, dass sie das Sterben für nichts erachten.“ (S. 448)
Gott sieht den Niedergang in verschiedenen Zeitabschnitten. Er wartet auf die volle Zahl der Märtyrer, die in den letzten Tagen des hoffnungslosen Irrtums, des Antichristen, wegen des Bekenntnisses seines Namens ihren Leib den Leiden des Martyriums ausliefern werden.
Der Sohn des Verderbens lehrt die Menschen nach der feurigen Begierde des Fleisches zu leben und jeden Wunsch ihres Fleisches zu erfüllen. Er wird sich als Gott anbeten lassen.
Gott lässt dies im Kreisen seiner Liebe zu, damit das gesamte Menschengeschlecht den Sturz des Antichristen erkennt. „Wenn nämlich der Sohn des Verderbens sich durch teuflische Kunst nach oben erhebt, wird er durch göttliche Kraft hinuntergestürzt werden. „Jesus, der Herr, wird ihn, den gesetzwidrigen Menschen, durch den Hauch seines Mundes töten“.
(2 Thess 2,8) Die dabeistehenden Völker werden sich zum wahren Glauben der Taufe bekehren. Sie werden Gott lobpreisen.
Hildegard hörte vom Himmel eine Stimme: „Jetzt sei Gott Lob in seinem Werk, dem Menschen. Für seine Erlösung hat Er die gewaltigsten Kämpfe auf der Erde geführt und Er hat sich gewürdigt, ihn über die Himmel zu erheben, damit er zusammen mit den Engeln Sein Antlitz in jener Einheit lobt, in der Er wahrer Gott und Mensch ist.“ (S: 460)

Welche spirituellen Aussagen hören wir in der zehnten und letzten Vision?
Es geht um die Liebe Gottes im Kreisen der Zeit und Ewigkeit. Denn Gott ist in seinem Wesen die Liebe. Gott hat in seinem Planen und in seiner Fürsorge für alles das Äußerste seiner Liebe darin gezeigt, dass der Sohn Gottes in seiner Menschheit den verlorenen Menschen zum Himmel zurückführt. Dieses Äußerste der Liebe Gottes, die Menschwerdung des Sohnes Gottes, leuchtet in der Zeit, vor der Zeit in seinem Vorauswissen und nach der Zeit, in Ewigkeit auf, die unser ewiges Leben ist. Gott war vor allem Anfang und ist der Anfang und die Zeit der Zeiten. Er selbst ist jenes lebendige Feuer, durch das die Seelen atmen. Er hat den Menschen „mit Feuer und Flamme“ ausgerüstet. Mit diesen beiden Kräften soll der Mensch wirken und durch den Glauben bei Gott wohnen. Er soll mit seiner Vernunft den Lobpreis Gottes vermehren.
Im Symbol des Rades kommt uns die Ewigkeit Gottes entgegen. Der Wille Gottes hat Zeitliches und Ewiges getrennt und eine göttliche Ordnung gesetzt. (Linien im Rad)
Im Vorherwissen Gottes liegt die Schöpfung; diese ist in der Ewigkeit eingeborgen mit all dem Verwandelten aus der Zeit. (grünes und rotes Feld)
Die untere Radhälfte gibt uns einen Einblick und Überblick über die Menschheitsgeschichte, die eine Heilsgeschichte Gottes mit seinen Geschöpfen ist. Die Bitte des Gottessohnes an den Vater um Schonung der Menschen erklingt bis zur Wiederkunft des Herrn, dem Ende der Zeitgeschichte:
Vater, weil Ich Dein Sohn bin, blicke auf Mich in der Liebe, in der Du Mich in die Welt gesandt hast, und betrachte Meine Wunden, durch die Ich auf Dein Geheiß den Menschen erlöst habe. Ich zeige sie Dir, damit Du Dich dieser erbarmst, die Ich erlöst habe. Laß nicht zu, dass sie aus dem Buch des Lebens getilgt werden. Durch das Blut Meiner Wunden hole Ich sie in der Reue zu dir zurück, damit nicht der, der Meine Menschwerdung und Mein Leiden verspottet, durch das Verderben über sie herrscht. (S. 456)
In der Mitte des Rades sitzt die Gestalt der Liebe. Sie weist auf Gott hin, der die Liebe ist.
Gott ist mitten in der Schöpfung, in Zeit und Ewigkeit, im Kreisen der Liebe.
Nun sei Lob dem allmächtigen Gott in all Seinen Werken vor der Zeit und in der Zeit, denn er ist der Erste und der Letzte. (S. 461)

Die spirituelle Botschaft der ersten, zweiten und zehnten Vision kreist um den Menschen aus Feuer und Flamme als Abbild Gottes, in den die höheren und niedrigeren Geschöpfe eingezeichnet sind. Der Mensch am Platz des verlorenen Engels, soll das Lob Gottes vollenden. Die gesamte Schöpfung soll dem Menschen bei seinem Werk beistehen. Deshalb hat Gott die Welt aus den Elementen zusammengefügt, mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und mit den übrigen Geschöpfen erfüllt. In ihr hat Gott den Menschen mit all diesem umgeben, mit größter Kraft überall durchströmt. Denn der Mensch, der mitten im Weltenbau steht, eingeästet in den Kosmos mit den Elementenkreisen, dem Windsystem, den Planeten und Sternen, kann ohne die Schöpfung nicht leben. Alles hat Gott des Menschen wegen erschaffen. In der Schöpfung kann er seinen Schöpfer erkennen. In der Verteidigung seines Schöpfers, in der Beziehung zu dem Urquell allen Lebens, hat der Mensch das Aussehen eines Menschen, weil er beginnt , nicht nach der Art des Viehs, sondern in Würde seiner menschlichen Natur entsprechend zu leben. Von den Gotteskräften, den Tugenden im Heiligen Geist, gestärkt, folgt der gläubige Mensch treu den Spuren des Sohnes Gottes. In lauterer Gesinnung soll Gott verehrt werden, der das Kosmosrad umarmt und so den Menschen in seiner Brust trägt. Durch den menschgewordenen Sohn Gottes ist der Mensch innig mit der Gestalt der Liebe verbunden. Die Liebe trägt den gläubigen Menschen in die Vollendung und Fülle des Lebens im Kreisen der Ewigkeit.
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB

„ O Mensch, schau den Menschen an!
Der Mensch hat nämlich Himmel und Erde in sich.
Er ist eine Gestalt, und doch ist in ihm alles verborgen.“ (Causa et curae S. 6)

Die Frage nach der Schöpfung und wie der Mensch mit dieser ihm von Gott gegebenen Schöpfung umgeht, wird heute von vielen diskutiert. Hildegard von Bingen schaute als Benediktinerin, geprägt von der Meditation der Heiligen Schrift und der Regel des heiligen Benedikt, auf die Fragen und Probleme ihrer Zeit. Heute betrachtet man in einer säkularisierten Welt die Schöpfung hauptsächlich unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Im 12. Jahrhundert wird das wissenschaftliche Interesse erst langsam lebendig. Hildegard von Bingen hat Interesse an Wissenschaft und damit den Fortschritten ihres Zeitalters. Die Schöpfung jedoch ist für sie nicht vom wissenschaftlichen Aspekt her interessant, sondern als Werk Gottes. Die Schöpfung ist der erste Akt Gottes, der die Vorbereitung für den zweiten Akt ist: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes. Gott, der Mensch wurde, um den Menschen zu retten – das ist für Hildegard von Bingen das zentrale Thema in ihren Werken.

Der Hauptgedanke Gottes in der Schöpfung ist der Gedanke der Beziehung. Er erschafft die Dinge, um den Menschen das Leben zu ermöglichen; er erschafft den Menschen, um mit ihm ins „Gespräch“ zu kommen. Auch der Mensch selbst ist Beziehung – Beziehung zwischen Leib und Seele. Außerdem ist auch die Beziehung der Menschen untereinander wichtig. Der Mensch heute ist wie Adam: Er hört andere Stimmen lieber als die Stimme Gottes. So fällt er ins Nichts.

Die Schöpfung ist der Akt Gottes, in dem er zeigt, wie er zu seiner Schöpfung steht: Gott will den Menschen als „Mitsprechenden“. Der Mensch als Abbild Gottes soll nach den Gedanken Gottes leben, in Kontakt mit ihm sein. Durch die Sünde wird dieser Kontakt zwischen Gott und dem Menschen unterbrochen oder sogar abgebrochen. Alle Handlungen des Menschen haben Auswirkungen auf die Schöpfung. Die Klage der Elemente im „Liber Vite Meritorum“ (Der Mensch in der Verantwortung ) macht dies deutlich: „ Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an jenen Mann < Gott> wandten. Sie riefen: ‚Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.‘ “ ( Der Mensch in der Verantwortung, S. 133). D.h. die Antwort des Menschen auf die Kontaktnahme Gottes durch die Schöpfung ist die Übernahme der Verantwortung für diese Schöpfung.

An verschiedenen Stellen in ihren Werken beschreibt Hildegard den Fall des Luzifer, z.B. in „Causa et Curae ( Heilwissen ): „…. Luzifer sah im Norden einen leeren Raum, der noch nicht in das Schöpfungswerk einbezogen war. Dort wollte er seinen Wohnsitz aufschlagen, um da noch mehr und größere Werke als Gott zu vollbringen. Er kannte dessen Absicht nicht, noch andere Geschöpfe zu erschaffen. Denn er erschaute nicht das Antlitz des Vaters, wußte nichts von seiner Macht und lernte auch seine Güte nicht kennen, weil er sich gegen Gott aufzulehnen suchte, bevor er dies erfahren konnte. Gott hatte nämlich dies noch nicht offenbart, sondern verborgen gehalten, wie es ein mächtiger, starker Mann tut, der seine Stärke manchmal vor den anderen Menschen verbirgt, so daß sie diese nicht kennen, bis er sehen kann, was sie über ihn denken und was sie beginnen und tun möchten. Als Luzifer sich in seinem verkehrten Willen zum Nichts – da es ein Nichts war, was er tun wollte – erheben wollte, stürzte er in das Nichts und konnte keinen Halt finden, weil er keinen Grund unter sich hatte. Denn er hatte keine Höhe über sich und keine Tiefe unter sich, die ihn vor einem Sturz hätte bewahren können. Als er sich aus dem Nichts ausstreckte, brachte das Beginnen dieses Strebens das Böse hervor, und alsbald entbrannte infolge der Eifersucht auf Gott das Böse, welches das helle Licht nicht kennt, in sich selbst – wie ein Rad, das sich dreht und in seinem Inneren eine glühende Finsternis sehen läßt.“ (Causa et curae S. 5,6). Gott ist der Schöpfer der Welt – er ist das „helle, strahlende Licht“, das Leben. Aus seinem Willen geht die Materie hervor. Das Licht und die Engel gehen aus der Schöpfung hervor. Die Engel sind Licht, sind Klarheit. Luzifer erbebt sich in seinem Stolz, möchte größer sein als Gott. Er sieht einen leeren Raum, den er für sich haben möchte. Und damit stürzt er ins Nichts. Der Mensch hat eine Höhe über seinem Kopf und einen Boden, einen Grund unter seinen Füßen – das ist Gott bzw. die Beziehung des Menschen zu Gott. Luzifer nicht; er steht nicht in dieser Beziehung und tut etwas, was Gott nicht von ihm gewollt hat. Der leere Raum – das Nichts, in das er fällt – steht für das Böse, das Laster, die Erhebung im Stolz. Er wird zum Bösen, wenn wir diesen Raum ohne Beziehung zu Gott nutzen. In dieser Versuchung, die uns gegebene freie Entscheidung in falscher Richtung zu nutzen, stehen wir Menschen immer wieder, und besonders auch in der heutigen säkularisierten Gesellschaft.
Im 1. Teil der 2. Vision des „Liber Sci Vias“ (Wisse die Wege) wird beschrieben, wie das Böse vom Teufel weitergegeben wird. An der Beziehung zwischen Eva und Adam wird deutlich, dass der Mensch durch Leidenschaften gekennzeichnet und damit angreifbar und besiegbar ist, wenn in unserem Herzen kein Kontakt zu Gott ist, wir mehr sein wollen, als wir sind : „Als der Teufel den Menschen im Paradies erblickte, rief er bestürzt: „Wer rührt da an die Wohnung meines wahren Glücks?“ Er war sich nämlich bewußt, daß er die Bosheit, die er in sich trug, noch in keinem anderen Geschöpf zur Vollendung gebracht hatte; doch als er Adam und Eva in kindlicher Unschuld im Paradiesgarten lustwandeln sah, war er sehr betroffen und machte sich auf, sie durch die Schlange zu verführen. … Weshalb? Weil er wußte, daß die Empfänglichkeit der Frau leichter zu besiegen ist als die männliche Stärke. Er sah auch, daß Adam Eva so leidenschaftlich liebte, daß nach einem Sieg über Eva Adam alles tun würde, was sie ihm sagte.“ ( Liber Sci Vias, S. 20/21 ).

In ihrem 3. Buch „Liber divinorum operum“ ( Das Buch der göttlichen Werke ), schreibt Hildegard, dass wir Menschen durch die Schöpfung lernen sollen, dass der Mensch der Gipfel der Schöpfung ist: Er allein kann sein Schicksal selbst bestimmen. Alles, was erschaffen ist, ist zum Dienst des Menschen da. Der Mensch ist zwar der Gipfel der Schöpfung, doch Christus ist der 7. Tag, die Vollendung. Sie schreibt: „…: Ich habe in meinem Sohn am siebten Tag, das ist in der Fülle des ganzen Guten, all mein Wirken folgendermassen begrenzt, damit das ganze kirchliche Volk, indem es schaut, hört und durch die Lehre erforscht, gut erkenne, was es in meinen Geboten zu tun habe. … Und ich habe aufgehört auf solche Weise in der Kirche zu wirken, da sie ja bereits im heiligen Werk, wie sie jetzt leuchtet, in einer vollständigen Grundlegung vollendet ist. Denn mein Sohn, der mein siebtes Werk ist, vollbrachte dies alles mit mir im Heiligen Geist, indem er aus dem Schoss der Jungfrau durch seine Menschheit hervorging, gemäß dem, was er im Evangelium sagt: „Alle Gewalt ist mir gegeben im Himmel und auf Erden“ Mt 28.,18 .“ (Liber Divinorum Operum S. 372/373). In der Menschwerdung des Sohnes stellt Gott den Kontakt zum Menschen, der durch Luzifer sowie Adam und Eva unterbrochen war, wieder her. Maria, die neue Eva, ist aus ihrer Beziehung zu Gott nicht herausgefallen. Darüber staunt Hildegard: Gott, der in seiner Güte immer wieder den Kontakt sucht und nicht ablässt – ER sucht den Kontakt durch einen Menschen, seinen Sohn. Hildegard gebraucht in diesem Zusammenhang das schöne und selten verwendete Bild vom Rad: „Aber Gott, der Vater, in seiner Güte blieb vollkommen wie ein Rad, weil seine Vaterschaft voller Güte ist; und so ist diese Vaterschaft sehr gerecht, gütig, fest, stark und, so besehen, mit einem Rad vergleichbar. … So ist die Vaterschaft wie der Umfang eines Rades, die Vaterschaft ist das vollständige Rad. Die Göttlichkeit ist in ihr, alles stammt von ihr, und ohne sie gibt es keinen Schöpfer. Luzifer aber ist nicht etwas Vollkommenes, Ganzes, sondern etwas Gespaltenes, Geteiltes, da er etwas sein wollte, was er nicht sein sollte. Als Gott die Welt erschuf, plante er seit jeher die Menschwerdung.“ (Causa et curae S. 6).

In diesem Sinne sollten wir auch wieder lernen mit der Schöpfung umzugehen: Sie ist uns von Gott gegeben, nicht um unser Maß zu überschreiten, sondern um unser Leben als mystisches Leben in Beziehung mit Gott zu leben, der uns erschaffen hat, wie Hildegard von Bingen sagt:
„Wer Gott in gläubiger Hingabe dient und ihn brennend liebt, wie es seiner würdig ist, wird durch keinen Ansturm der Ungerechtigkeit erschreckt und der himmlischen Seligkeit entrissen.“ ( Liber Sci Vias, S. 16 ).

Literatur:

Hildegard von Bingen, Liber Sci Vias ( Wisse die Wege ),übers. und hrsg. von Walburga Storch OSB, Verlag Herder Freiburg, Basel, Wien 1992

Ders., Liber Vite Meritorum ( Der Mensch in der Verantwortung ), übers. v. Heinrich Schipperges, Otto Müller Verlag Salzburg 1972

Ders., Liber Divinorum Operum ( Das Buch der göttlichen Werke ), übers. Von P. Paul Suso Holdener CSSR, Hovine – Verlag Ponchin ( F ), Marquain ( B ) 1989

Ders., Causae et Curae (Heilwissen ), übers. und hrsg. von Manfred Pawlik, Pattloch Verlag Augsburg 1989

Sr. Lydia Stritzl OSB

Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine der bedeutendsten Frauen des deutschen Mittelalters und ist heute weit über die Grenzen ihrer rheinischen Heimat hinaus bekannt. Ihre Zeitgenossen zog sie gleichermaßen in ihren Bann wie die Menschen, die heute nach Orientierung im Glauben, nach Ganzheit und Heil suchen. Am 7. Oktober 2012 wurde Hildegard von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin erhoben, eine Ehrung, die bisher in der Geschichte der Kirche nur 30 Männern und vier Frauen zu Teil wurde.

Hildegards theologisches, philosophisches, musikalisches und naturkundliches Werk und Selbstverständnis trägt stark visionäre und prophetische Züge. Göttlicher Ursprung dessen, was sie im „Lebendigen Licht“ geschaut und gehört hat, und Sendungsbewusstsein der Prophetin zeichnen es gleichermaßen aus. Die heilige Hildegard wollte die Menschen ihrer Zeit aufrütteln und der Gottvergessenheit entgegentreten. Dabei predigte sie keineswegs eine weltlose Innerlichkeit. Ihr ging es um die religiöse Deutung des gesamten Kosmos, um ein konsequent gelebtes christliches Leben. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Dasein in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe, war Geschenk und Aufgabe zugleich.
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Wenn Johann Wolfgang von Goethe unmittelbar vor seinem Tod, sozusagen in einem letzten Aufschrei, verzweifelt die Worte „mehr Licht!“ in die Welt hinausrief, so wird dies wohl nicht zu Unrecht als Ausdruck schmerzlichster und tiefster Sehnsucht des Sterbenden nach dem Transzendenten bewertet. Bis zum letzten Augenblick seines Lebens hat J.W. von Goethe mit und um Gott gerungen. Am Ende dann der Ruf nach dem Licht, das alle Dunkelheit erhellt, das Hoffnung aufstrahlen läßt und den menschlichen Geist erleuchtet und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.
Von jeher ist das Licht als Chiffre für Gott, als Bild dafür gebraucht worden, das unsagbare Geheimnis sagbar zu machen und die Frage nach dem Grund und Ziel allen Lebens zu beantworten. „Gott ist Licht“, sagt der Evangelist Johannes, und überall da, wo Gott sich in die Geschichte hinein offenbarte, erschien ein überhelles Licht. Licht aber erhellt nicht nur die Finsternis und ermöglicht das wahre Sehen, es spendet und erhält auch Leben, es schenkt Wärme und Heimat und wird damit zum Symbol der Gotteserkenntnis, des Lebens und der Liebe schlechthin.

Begegnung mit dem Licht
Auch das Leben Hildegards von Bingen (1098 – 1179) war bis zu ihrem Tod, bei dem der Legende nach ein strahlendes Licht am Himmel erschienen sein soll, gekennzeichnet vom Licht in all seinen Farben und Schattierungen. Weiterlesen

Bermersheim
Als „Rheinhessen“ wird auch heute noch jenes mittelrheinische Gebiet zwischen Nahe und südlichem Rheinknie bezeichnet, das ehemals linksrheinische Provinz des Großherzogtums Hessen war. Es ist eine geschichtsträchtige Landschaft, die Spuren aus der Bronze- und Eisenzeit (2000 v. Chr.) aufweist, sodann von der späteren Besiedlung durch die Kelten, Römer und Germanen und schließlich – nach Eingliederung ins Frankenreich – von fränkischen Siedlern. Stets war es das Schicksal dieses Rhein-Nahe-Raums, als Grenz- und Durchgangsland auch mehr dem ,Wandel und der Zerstörung“ ausgesetzt zu sein als andere deutsche Landstriche.
All das ist mit zu bedenken auf der Suche nach Spuren Hildegards, die 1098 im rheinhessischen Bermersheim als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Frau Mechtild geboren wurde. Nichts weist heute in diesem kleinen, beschaulichen Ort darauf hin, daß er einstmals der Stamm- oder Herrschaftssitz eines Geschlechtes war, das sich sowohl „durch hohen Adel und überfließenden Reichtum“ als auch „durch erleuchten Ruf und Namen“ – so die Hildegard-Vita – auszeichnete.

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Hildegard beginnt ihre großen Visionswerke mit den Worten „Vidi et audivi“. Sie reiht sich damit in die Tradition der altestamentlichen Propheten und vor allem der apokalyptischen Schau des Sehers Johannes ein. Was aber ist eine Vision? Ein „himmlischen Fernsehapparat“, mit Hilfe dessen Gott der Seherin ihre Werke in die Feder diktierte? Oder gar eine Lichterscheinung infolge eines Migräneanfalls, wie andere behaupten? Die Wahrheit ist, wie so oft, viel einfacher und elementarer.

Werfen wir einen Blick in die Heilige Schrift – das Sehen kommt dort häufig vor, denken Sie nur an die Blindenheilungen, an Zachäus, an die Berufung des Nathanael, an die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das Wort „Vision“ kommt vom lateinischen Wort „videre“ – sehen. Sehen in biblischer Sicht bedeutet nicht zuerst äußeres Sehen und äußeres Wahrnehmen von Wirklichkeit. Sehen in biblischer Sicht bedeutet immer „liebendes Erkennen“, Einsicht in die Wesenheit der Dinge, die Gesamtschau der Zusammenhänge, ja letztlich die Erfahrung des unsagbaren Geheimnisses Gottes in Jesus Christus selbst. In diesem Sinne ist das Sehen eine Art Vorform des jenseitigen Schauens, die beginnhafte Vorausgestalt dessen, was wir gemeinhin als himmlische Glückseligkeit und als endgültige Anschauung Gottes bezeichnen. Gott, der Sehende schlechthin, gibt uns, seinen Geschöpfen, Anteil an seiner Sicht der Dinge und der Welt – und zwar immer dann, wenn wir uns liebend IHM zuwenden, wenn wir SEIN WORT hören und es gläubig annehmen. Sehen und Hören gehören also zusammen: Vidi et audivi – nicht nur bei Hildegard. Im Buch Deuteronomium heißt es: „Das Volk sah das Wort“, und bei Jesaja: „Das Wort, das Jesaja in einer Vision vernommen hat“ (2,1).

Die alten Mönchsväter nannten solche Art des Sehens und Hörens Kontemplation. Wichtig ist dabei zunächst, daß wir es nicht „machen“ können, so wie wir auch die Liebe nicht machen, sondern nur als Geschenk empfangen können. Es gibt keine „Technik“, deren korrekte Anwendung uns bereits den gewünschten Erfolg der Kontemplation beschert. Wir können uns nur bereiten, können offen sein für das Geschenk der Gnade – und dies überall und in jedem Augenblick unseres Lebens. Und, was ebenso wichtig ist, wir können uns ein-üben, Gottes Wort zu hören und alles mit seinen Augen zu sehen. Nichts anderes wollen Exerzitien sein – eine Einübung ins rechte Sehen und Hören.

Die Praxis der frühen Kirche, vor allem die Mönchstradition, lehrt uns den Dreischritt „Lectio – Meditatio – Oratio“ als Weg der Kontemplation. Hildegard hat diesen Weg von früher Jugend an eingeübt und hat so das Sehen gelernt. Anderthalb Jahrtausende lang fanden Menschen in diesem Dreischritt die Quellen ihres Christseins, beruhte auf ihm auch alle theologische Erkenntnis. Hildegard war wohl die letzte Vertreterin dieser sogenannten Monastischen Theologie. Vielleicht kann sie uns gerade deshalb heute wieder helfen, zu den Ursprüngen unseres christlichen Glaubenslebens und damit auch zur unmittelbaren Begegnung mit Gott zurückzufinden.

Betrachten wir also den erwähnten Dreischritt ein wenig näher. In der „Lectio“ wird der Text der Hl. Schrift aufmerksam und ehrfürchtig immer wieder gelesen und „zerkaut“ (ruminatio). In der „Meditatio“ vertieft der Leser den Text und sucht nach seiner inneren Wahrheit. Im Hören auf Gottes Wort dringt er zugleich auch in sich selber ein, und in dem er tiefer in sich selbst eindringt, erschließt sich ihm wiederum der Text. Ein solches Lesen bedeutet ein Neu-Lesen – nicht die Wiederholung eines toten Buchstabens – und ein Neu-Schaffen, denn der Leser war vor der Lektüre noch nicht das, wozu er im Lesen geworden ist. Die Lesung und Verinnerlichung in der Meditation führen ihn dann schließlich in die „Oratio“, in das Gespräch mit Gott. Der Leser erbittet, daß Gott selber ihm den Text erschließt und die wahre Erkenntnis des Wortes schenkt. Nun wird der Leser mit dem Gelesenen innerlich eins. Er ist hineingenommen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott und sieht von daher die Welt, ihr Wesen, ihre Zusammenhänge und sich selbst auf neue Weise. Es geschieht das, was wir Erkenntnis nennen, eine Vertrautheit mit dem Ganzen des Lebens und mit dem Absoluten. Es ist eine von der Liebe umfaßte und in ihr gründende Erkenntnis, die Gott in allen Dingen sieht und alle endliche Wirklichkeit auf die Gegenwart des Unendlichen hin durchsichtig werden läßt. Hier scheint dann etwas auf von der „alle Erkenntnis übersteigenden Erkenntnis“, von der die Heilige Schrift spricht. Erst eine solche Erkenntnis macht den Menschen, macht uns, dann auch zu wirklichen Zeugen, in deren Nähe Gott für andere spürbar wird.

Hildegard war so ein Mensch. In der Kontemplation erschloß sich ihr – wie sie im Vorwort zu ihrem Hauptwerk SCIVIAS schreibt – „der Sinn der Schriften“ und all dessen, was sie gelernt und im Leben erfahren hat. Kontemplation, und das möchte ich hier ganz besonders betonen, ist keineswegs an die Voraussetzung von Klosterzelle und Kreuzgang gebunden. Sie ist ein Weg und ein Geschenk, das Gott für jeden bereit hält. Vielleicht ist es gerade für uns heute besonders wichtig, zu den Quellen des Wortes zurückzukehren, anstatt mehr oder weniger aus Konserven pastoralliturgischer Hilfen zu leben. Lesung, Meditation und Gebet sind unverzichtbare Voraussetzungen gerade für die Verkündigung – sonst wird es dieser bald an Überzeugungskraft fehlen. Nur wenn das Wort erlauscht, aufgenommen, bewahrt und meditiert wird, kann es Propheten erwecken, die Befreier und Wegweiser sind.

SCIVIAS – Wisse die Wege oder Wegweisung – heißt das Hauptwerk Hildegards, das den Menschen ihrer Zeit und auch uns Wege zum Glauben an den dreifaltigen, an den liebenden und barmherzigen Gott eröffnete. Gott, Welt und Mensch – vereint in der Gesamtschau und in der Zeugenschaft des leidenschaftlich liebenden Herzens. Ob wir zu Ähnlichem heute die Kraft und den Mut haben?

Ich möchte Ihnen für eine Zeit der stillen Betrachtung die zweite Miniatur aus dem Buch SCIVIAS empfehlen (dazu Jes Sir 1,9 ff.). Sie trägt den Titel „Der Leuchtende“. Nähehin geht es mir hier um die Tugend der Gottesfurcht, die Hildegard als Gestalt, die über und über mit Augen bedeckt ist, darstellt. Die Gottesfurcht hat nichts mit Angst zu tun, sondern vielmehr mit Ehrfurcht. Sie ist ganz Auge und Ohr für Gott. Gott läßt sich durch die Gottesfurcht erkennen und wird durch sie geschaut. Deshalb ist sie der Anfang der Weisheit, wie es im Buch Jesus Sirach (1,14) heißt. Wer betet, der schaut auf Gott, und Gott schaut auf ihn.

Bitten wir am Schluß Gott: Du hast in der heiligen Hildegard das Verlangen geweckt, deine Größe allezeit liebend zu betrachten und zu preisen. Schenke uns auf ihre Fürsprache Wachstum in der geistlichen Erkenntnis, damit wir im Dunkel das Licht deiner Klarheit erkennen und wach sind für den Augenblick, wo du uns begegnen willst. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Von Sr. Philippa Rath OSB

Hildegard von Bingen, die zwei von ihr gegründeten Frauenklöstern vorstand und als Prophetin ihrer Zeit galt, bezeichnete sich in ihren Werken immer wieder als „einfältige Frau“. Eine sorgfältige Lektüre ihrer Werke dagegen verrät eine hochtheologische, sogar philosophische Bildung dieser Frau, die in den großen Fragen ihrer Zeit gleichrangig neben großen Theologen und Denkern stand.
Aus diesem Grund ist die wissenschaftlich-akademische Interpretation ihres Werkes ein durchaus angemessener Weg der Annäherung. Andererseits sind ihre Aussagen immer an den Menschen gerichtet, der nach Heil verlangt und nach Gott sucht. So führt auch der Weg der meditativen, besinnlichen Lektüre ohne philologische Voraussetzungen zu einem bestimmten Verständnis Hildegards, das für das eigene Leben fruchtbar werden kann. Dazu kommt die Popularisierung der sogenannten Naturheilkunde Hildegards, die einer breiten Schicht von Menschen Zugang zu Hildegard gewährt, diesen aber gleichzeitig auch verschließen kann. Weiterlesen

Die mittelalterliche Medizin und damit auch die Natur- und Heilkunde Hildegards von Bingen war ganz wesentlich geprägt vom Geist der Heiligen Schrift und der Benediktusregel. Diese haben keinerlei Behandlungsmethoden oder Heiltechniken im modernen Sinne überliefert, wohl aber ein Bild des gesunden und des kranken Menschen, konkrete Wege zu einer gesunden Lebensordnung und Lebensführung sowie die Kunde von Heil und Heilung des Menschen.

Hildegards naturkundliche und medizinische Schriften entstanden zwischen 1150 und 1160. Sie sind Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, antiker Überlieferung und benediktinischer Tradition. Weiterlesen