„Wenn sie zum Herrn umkehren, lässt er sich durch ihre Bitten erweichen und heilt sie.“ (Jes 19,22)
Heilung, ein viel genanntes, oft beschworenes und leider schon etwas abgegriffenes Wort.
„Wenn ich nur gesund bleibe oder gesund werde“, das ist der Wunsch Nummer eins fast aller Menschen. Ein breites Spektrum von Heilungsangeboten steht zur Verfügung und verspricht oft mehr als es halten kann. Heilung ist ein vielschichtiges Geschehen. Sie umgreift nicht nur die physischen und psychischen Bereiche des Menschen. Sie reicht bis an die Wurzeln unserer Existenz, an die grundlegende Bindung, an unseren Ursprung, in unsere Gottesbeziehung.
Mit Kuss und Umarmung hat der Schöpfer uns, so Hildegard von Bingen, ins Leben entlassen. Alles im Leben sehnt sich zurück nach diesem Kuss und dieser Umarmung. Heilung aber kann diese uns bestimmende Wirklichkeit nicht auslassen, wenn sie ganzheitlich sein soll.
Andererseits kann die Vermittlung des Glaubens, die Rede von Gott nicht greifen, wenn sie den therapeutischen Aspekt außer Acht lässt. Eugen Biser versucht das nachdrücklich zu betonen, dieser Zusammenhang sei biblisch verankert und begründet. Gott als der Heiland in Jesus Christus ist nicht für die Gesunden gekommen, sondern als Arzt für die Kranken. Glaube und Heilung gehören zusammen (vgl. Ex 15,26).
„Herr Jesus, du einziger Arzt, hab’ Erbarmen!“, so lautet eine der ältesten Anrufungen der Kirche.

Umkehr – das andere Wort.
Man kann diesen Begriff sogar heute in den Reden der Politiker hören. Dort wird er wohl verstanden als Appell: „Berücksichtigen Sie bitte unsere gegenwärtige Lage. Verzichten Sie auf einiges, damit auch andere leben können und die Schöpfung bewahrt bleibt.“ Umkehr meint dann so viel wie: Es kann nicht so weitergehen mit uns, ich muss mich auf weniger einstellen.“
Wir wissen genau, dass unsere eigenen Vorsätze und Anstrengungen allzu oft auf der Strecke bleiben. So stellen sich – bewusst oder unbewusst – Schuldgefühle ein, die wir nicht wieder loswerden. Und gerade diese machen uns zutiefst krank.
„Kehrt um, und ihr werdet geheilt!“ ist uns zugesagt.
Umkehr – ein anderes Wort für Heilung. Aber wie geht das denn: Umkehr?
Da hält jemand auf seinem Weg an und stellt sich die Frage: „Was ist denn eigentlich los mit mir? Etwas stimmt doch nicht!“ Es ist schon viel, wenn der Mensch sich nicht willenlos vom Leben treiben lässt und einfach alles irgendwie wegsteckt, wenn es nur weitergeht.
Die meisten Fragen haben eine Antwort, man muss sie nur suchen. Gott ist Wort, und das Wort sucht den Dialog. „Lasst uns ein Gespräch miteinander führen“, so bittet der Schöpfer seine Geliebte, die Schöpfung; so lesen wir bei der hl. Hildegard. Der Heilige Geist hat uns berührt, wenn wir auf diese Weise fragen können. Er berührt uns immer wieder und beatmet gewissermaßen den unantastbaren Raum unserer Freiheit, selbst wenn unser Herz hart wäre wie Stein. Im Grunde weiß ich, dass etwas geschehen muss und deshalb frage ich weiter: „Was soll ich tun?“ Das ist bereits ein Fortschritt. „Wohin soll ich gehen?“ Ich spüre sehr bald, dass ich Hilfe brauche, dass ich nicht einfach alles mit mir alleine ausmachen kann. Und dann endlich: „Zu wem soll ich laufen, dass er mich heile und mein Elend von mir nehme?“ Es kommt jetzt zum entscheidenden Schritt: Ich kehre mich um, d.h. ich komme weg von mir selbst und kehre mich hin zu Gott, zum Heiland. Der Menschensohn kennt mich zwar bis in die Tiefen meines Herzens, und doch bettelt Er: „Zeige mir in deinem Herzen deine Wunden! Dann zeige ich dir auch meine Wunden. Ich leide mit dir und in dir, und du hast mit mir Gemeinschaft beim Vater.“
Gott sucht also in unseren Herzen nicht das bißchen Liebe, das wir zu geben vermögen, auch nicht unsere sog. guten Werke, unsere Leistung. Er bittet darum, Ihm alles zu überlassen, was uns krank macht, denn Er will es heilen. Gott hebt nicht nur Seine Hand in einer verzeihenden Geste, nein, Er scheut sich nicht, „eitrige und von Würmern angefressene Wunden“ sanft zu behandeln. Ja, so Hildegard, „dann vermählt sich Gott sogar mit dem menschlichen Schmutz, denn Er will reinigen, heilen.“ Dabei müssen wir uns nicht einmal schämen. Gott selbst ist es, der unsere Würde schützt. Er hat sie uns verliehen, und ohne sie kann kein Mensch auf Dauer leben. Bleiben wir im Bild der hl. Hildegard. Er legt den kostbaren Mantel der Würde um uns, damit wir uns der Nacktheit nicht zu schämen brauchen.
Vielleicht erscheint das alles zu glatt, zu einfach, zu abgehoben und euphorisch. Aber schauen wir uns ein Kind an, wenn es in den Schmutz gefallen ist. Es wird keinen Finger rühren, um an seiner üblen Situation etwas zu korrigieren. Es schreit einfach und läuft geradewegs zu Vater und Mutter. Voller Vertrauen ist es. Es weiß, dass die Eltern Hilfe schenken und alles wieder in Ordnung bringen werden. Wie einfach! Aber man tut nicht das, was am einfachsten ist, wenigstens wir Erwachsenen nicht, weil wir die Unbekümmertheit, das Vertrauen ohne zu hinterfragen und auch die Gelenkigkeit des Kindes verloren haben. O glückliche Kindschaft. Wir brauchen dringend Heilgymnastik, damit wir wieder gelenkig werden.
Es geht bei der Heilung um die entscheidende Umkehr, je neu. Es geht um den Kernpunkt des Lebens: „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen.“ Wenn du nur anfängst das zu sagen, dann wird dir bereits die Kraft der erbarmenden Liebe, Heilung zuteil. Für Hildegard ruht die gesamte Heilkunst auf diesem unabdingbaren Fundament. Und ohne dieses Fundament blieben alle eingesetzten Kräfte der Natur, ob Kräuter, Wasser, Steine, nichts als Mittel zur Symptombekämpfung.
Es ist nicht von ungefähr, wenn man auf der ältesten Hospizordnung aus dem 12. Jahrhundert lesen kann: „Was soll man mit einem Kranken zuerst tun? Man stelle ihn einem Priester vor, damit er sein Versagen aussprechen kann.“ Ohne diese Entlastung kann die Heilung nicht gelingen.
Der Gesellschaftskritiker Ivan Illich schreibt in seinem Buch „Die Nemesis der Medizin“: „Reueschmerz ist Zeichen der Erholung und hat nichts mit Schuldgefühlen zu tun, von denen die Psychoanalyse spricht.“
Ich frage mich: „Ist es nur unsere existentielle Vergesslichkeit, die uns immer wieder hindert, diese Umkehr zu vollziehen? Oder stecken in uns verborgene Widerstände?
Wir alle kennen die beiden Fluchtwege, die letztlich eine gemeinsame Wurzel haben, es sind Fluchtwege, die in die eigene Autonomie zurückführen. „Ich muss doch selbst mit mir fertig werden!“, dieser Gedanke steht im Vordergrund. Er blendet mein Versagen aus und baut mir eine Scheinwürde auf. „Nein, das war ich nicht oder daran bin ich schließlich nicht schuld.“ Nur das eigene Gesicht bewahren. Die selbstfabrizierte Würde ist aber wie ein Kartenhaus, das jederzeit zusammenstürzen kann. Es ist interessant, dass der „Spiegel“ das gegenwärtige Zeitgefühl in einem pointierten Artikel als „Tanz um das goldene Selbst“ bezeichnet. Oder aber – das wäre dann der zweite Fluchtweg – je nach Veranlagung, sacken wir depressiv ab, entwürdigen uns selbst und „belecken“ sozusagen unsere Wunden, weil wir nicht davon loskommen. Ich werde dann das Opfer meiner Umgebung. Wieder stellt sich das Gefühl ein: Die anderen sind schuld.
Der Mensch ist von schwankender Natur. Bald will er zu hoch hinaus, dann stürzt er zu tief hinunter. Ständig wird er über das rechte Maß hinaus in Bewegung gesetzt. Darum kann er keine Heilung finden, obwohl die heilende Kraft Gottes immer zur Verfügung steht und nicht hin- und herschwankt.
Doch es gibt noch einen viel tiefer liegenderen Widerstand in uns oder besser gesagt ein Unvermögen. Es befindet sich an der Wurzel unseres Glaubens und ist ein Stück verborgener Atheismus in uns. Was meine ich damit?
Als Jesus zwei Blinden begegnete und sie Ihn um Heilung baten, fragte Er sie: „Glaubt ihr, dass ich das tun kann?“ Sie antworteten: „Ja.“ – und dieser Glaube hat sie sehend gemacht.
Der Herr fragt auch uns: „Glaubst du mir? Glaubst du, dass ich das alles tun kann?“ Das ist die Grundfrage! „Glaubst du wirklich, dass ich bis in deinen Leib zu wirken vermag? Oder gestehst du mir nur den geistigen Bereich zu? Schließt du mich eher aus aus deinem Leben?“ Es gibt allzu viele Zeitgenossen, die das konkrete Wirken Gottes bis in die Materie hinein für ausgeschlossen, unglaublich, unpassend halten, auch solche, die die Existenz Gottes nicht leugnen. Aber für sie ist Gott ein fernes Wesen und die Naturgesetze sind ehern. Jedoch das Wort ist Fleisch geworden und wohnt unter uns, in jedem von uns.
Ich habe mich in der letzten Zeit mit jener unbekannten Frau des Evangeliums angefreundet, die krank war und der kein Arzt mehr helfen konnte. Sie bricht schließlich auf zu Jesus und mischt sich in das Gemenge der Menschen, um Heilung bei Ihm zu finden von ihren Blutungen. „Wenn ich nur den Saum seines Gewandes berühre“, das kann Er ja nicht merken und ich bleibe anonym. Aber da dreht sich Jesus seinerseits um und fragt: „Wer hat mich da berührt?“ Obwohl die wogende Menge Ihn schubst und bedrängt, hat Er es gespürt, denn „eine Kraft ist von ihm ausgegangen“. Dann kann auch die Frau ihre Tat bekennen, sie weiß sich bereits geheilt.
„Wenn ich nur den Saum seines Gewandes berühre“ – man braucht also Jesus nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht begegnen. – Der fromme Jude nannte das Beten „Jahwe vom Rücken her sehen“. – Es genügt die kleine und doch so gewaltige Berührung des Glaubens. (Vgl. dazu Mk 11,23: „Wenn jemand zu diesem Berg sagt: Heb’ dich empor, und stürz’ dich ins Meer, und wenn er in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass geschieht, was er sagt, dann wird es geschehen.“)
Dies alles ereignet sich unter dem Wirken des Heiligen Geistes. Er selbst ist der Fluss heilender Energien. Er ergießt sich gewissermaßen in uns hinein, wenn wir nur aus der Rückbiegung auf uns selbst aufbrechen, umkehren zu Ihm, der uns wirklich heilen kann.
Hildegard spricht: „O heilende Kraft, die sich Bahn bricht, alles durchdringst du, die Höhen und Tiefen und jeglichen Abgrund!“
Umkehr bedeutet so primär nicht moralische Anstrengung, sondern Lockerung von Verkrümmung, Befreiung von der Fessel des „Auf-mich-selbst-Gestelltseins“. Hildegard meint, fleischlich zu fallen, das sei nicht so schlimm, aber Seinen Gott zu vergessen, das sei viel schlimmer. Schließlich leben wir ja keine Stunde ohne die Berührung mit dem Bösen, immer haben wir den Geschmack des Paradiesapfels im Mund.
Wenn der Mensch umkehrt, ereignet sich in der gesamten Schöpfung eine gewaltige Resonanz, ist doch der Mensch eingeästelt in die Schöpfung wie die Zweige in den Baum. Erde und Himmel erzittern vor Freude, wenn der Mensch den rechten Ton an-stimmt. Dann kann die Schöpfung aufatmen in ihrem Klagegeschrei über die bösen Taten des Menschen, die alles zerstören. Die Schöpfung wartet gewissermaßen darauf, dass der geistbegabte Mensch endlich nach Heilung trachtet, sie sucht, empfängt und weitergibt. Umkehr ist also nicht nur ein Restitutionsfaktor für den Menschen, sondern für alles, was unter der Sonne lebt.
Die stärkste Kraft Gottes ist sein Erbarmen, sie schafft ganze Energiefelder. Diese ungeheure Kraft, die Gott uns im Blute seines Sohnes zuspricht, ist die gleiche, mit der Gott im Anfang das Universum ins Leben rief. Gott verschenkt sich freiwillig, mit Augenmaß und immer ganz. Wenn wir die Kraft seiner Liebe aufnehmen und mit ihr in unserem Tun wirken, dann werden auch von uns heilende Kräfte ausgehen. Hildegard mahnt mehrmals in ihren Briefen: „Salbe deinen Bruder mit Barmherzigkeit und frage nicht, ob er es verdient! Aber bedenke, dass es nicht nur deine kleine Kraft ist, die du ihm gibst, sondern es ist auch meine göttliche Kraft.“
Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind uns noch aus der Tradition bekannt, die der geistigen wohl weniger. Da geht es um „das Trösten, um den guten Rat, das „Sich-für-den-anderen-verantwortlich-Wissen, es geht um das Ertragen in Geduld, um die Verzeihung erlittenen Unrechts und das Bitten für den anderen. Bei allem Sichtbaren, das damit verbunden ist, macht doch die entscheidende Komponente das Unsichtbare aus. Und die Wirkmächtigkeit solcher heilenden Energie, im rechten Wirken mit Gott zusammen, lässt sich in ihrem Ausmaß kaum überschätzen. Die sich verströmenden Tugendkräfte – Tugend ist leider heute zu Unrecht ein suspektes, verstaubtes Wort geworden – stellen ein Geschehen voller Dynamik dar. Durch das innewohnende Göttliche öffnen sich ganze Räume der Erholung in den heillos verfahrenen Strukturen unserer menschlichen Konstrukte. Wir werden dann keinen Menschen mehr würdelos behandeln. Darin sieht die hl. Hildegard wohl vor allem die Nächstenliebe: Die Würde, die mir Gott jederzeit neu schenkt, an jede Kreatur weiter-zugeben. „Nur vom Herzen geht Heilung aus“, schreibt Hildegard an Papst Anastasius IV. und nicht umgekehrt von den Strukturen.
Das alles wird in kleinen, lebbaren Schritten gegangen werden müssen, und wir kommen z.B. um die Forderung der Tugenden nicht herum. Wir müssen uns wieder auf wohltuende und einübbare Formen besinnen, in denen der heilende Einfluss der Gottesbeziehung offenkundig wird.
Die Benediktusregel spricht „vom Wettlauf der gegenseitigen Hochachtung“, von den Formen der Ehrfurcht. Das ist vielleicht einer ihrer wichtigsten Beiträge heute. „Alle Menschen ehren“, ja jedes Gerät als instrumentum Dei behandeln …
Ich persönlich lebe über fünfzig Jahre als Benediktinerin mit dem uns eigenen Gelübde der Umkehr, sozusagen also „berufsmäßig“. Aber erst nach und nach ist mir die Ungeheuerlichkeit dieses Versprechens voll aufgegangen. Um zu Gott umzukehren, aufzubrechen, braucht es zuerst nur die Erkenntnis unserer kleinen Gebrochenheiten, die wir oft kaum wahrnehmen und auch schlecht abzustellen vermögen, die schon langsam zu unserem Habitus gehören und sich mehr und mehr im Unbewussten angesiedelt haben. Jedoch unsere Mitmenschen sehen sie besser: Hören wir gut hin. Es gibt eine reichhaltige Palette an Gebrochenheiten. Da sind unsere Eigenwilligkeiten, unsere Unruhe und Eitelkeit, falscher Eifer, Schwachheit, und vieles mehr. Alles, was wir tun, hat gleichzeitig ein Bündel von Nebenmotiven. Von alledem können wir uns nicht selbst reinigen. Und gerade das kann zur treibenden Kraft werden, Heilung zu suchen.
„Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Dieser Gebetsruf entspringt dem Verlangen nach Heilung durch die Reue. Er ist ein Teil des Herzensgebetes der Ostkirche. Es ist dort für unsere Schwestern und Brüder die höchste Stufe des Seins, wenn wir das Erbarmen Gottes erflehen. Das aufgebrochene Herz ist der Gott wohlgefällige Dienst. Und nirgendwo wird Ostern so jubelnd gefeiert wie in der Ostkirche.
In einer Vision schaut Hildegard das unermesslich große Universum, das zusammengehalten wird von den Menschen, die nach der Weisung des Herrn leben und die in Reue umkehren. Welche Kraft der Umkehr, wenn sie sogar die Grundfesten der Erde hält und die Sterne berührt. Um dieser Menschen willen wird die Schöpfung nicht zerstört werden.
Die heilsame Umkehr, und dessen müssen wir uns bewusst bleiben, ist das Werk und der Sieg des Heiligen Geistes in uns und durch uns. Hören wir noch einmal die hl. Hildegard:

„Heiliger Geist, du lauterer Quell.
In dir schauen wir, wie Gott die in die Fremde Gegangenen
sammelt und heimholt, was noch verirrt ist.
Du salbst die gefährlich Verletzten und reinigst ihre Wunden.
Sie alle hast du verwandelt in kostbares Edelgestein.
Heiliger Geist, mach’ uns frei, die wir noch liegen in Fesseln,
du, heilende Kraft, willst uns retten!“

„Weil ich keinerlei menschliche Sicherheit
in mir zurückbehalte,
habe ich all’ meine Hoffnung
und mein ganzes Vertrauen
einzig auf die Hilfe Gottes gesetzt.“
Sr. Caecilia Bonn OSB
(Predigt im Mainzer Dom am 16.03.1998)